Marginal Wilhelms II.
datiert Rominten, 6. Oktober 1908, auf einem Schreiben des Fürsten Bülow über das
Ersuchen des österreichisch-ungarischen Botschafters Szögenyi-Marich um Audienz zur
Überreichung eines persönlichen Briefes Franz Josefs I. an den Deutschen Kaiser
(Zu Seite 341)
Das wir gegen die Annexion nichts thun ist selbstverständlich! Ich bin aber
persönlich auf das tiefste in meinen Gefühlen als Bundesgenosse verletzt, daß
ich nicht im Geringsten vorher von S. M. ins Vertrauen gezogen wurde. Die
1. Nachricht von der bevorstehenden Annexion bekam ich gestern (5*) Abends
aus Stambul aus türkischer Quelle. Die Polit. Veränderungen in Stambul,
die als Grund für die Annexion im Briefe S. M. angegeben werden, fanden
im Juli statt. Es wäre wohl angängig gewesen, wenn am 18. August der
Botschafter — für mich persönlich — eine streng vertraul. Mittheilung ge-
macht hätte, daß Etwas dergleichen im Werke sei. So bin ich der Letzte von
Allen in Europa, der überhaupt Etwas erfahren! Das ist ein netter Dank für
die Hilfe in der Sandschackbahnfrage, wo wir die ganze Wuth Iswolskis
monatelang auszuhalten hatten, und für die Huldigung in Wien! Ich beklage
tief die Form in der die Angelegenheit gestartet wurde. Der lügnerische Heuchler
Ferdinand und der würdige alte Kaiser die gemeinsam als Spoliatoren der
Türkei in Bengalischer Beleuchtung auf der Bühne erschienen!! Die Engländer
werden nun erst Recht behaupten, daß alles von Österreich und uns vorher
mit Bulgarien — also gegen die Türkei! — arrangirt gewesen sei, und daß
wir in der Orientbahnfrage eine unsaubere Comödie gespielt haben. Vom
Türkischen Standpunkt aus betrachtet ergiebt sich die Lage, daß nach 20 Jahren
Freundespolitik von mir, mein bester Verbündeter der erste ist der das Signal
zum Auftheilen der Europ. Türkei gegeben hat! Eine angenehme Situation
für uns in Stambul. Die Griechen werden schäumen bei ihrem grenzenlosen
Haß gegen Bulgarien und Rußland, die in ihren Augen stets zusammen-
gehen. Aehrenthal will — wie Ew. D. sagen — die Russen nicht auf dem
Balkan sehen, dabei stärkt er ihre Avantgarde und Hauptagenten die Bul-
garen! Angesichts dieser Verhältnisse muß nun aber die elende Marokko-
affaire zum Abschluß gebracht werden, schnell und endgültig. There is much
labour lost, das ist der Eindruck, den der vorzügliche Bericht von Vassel mir
hinterließ. Es ist nichts zu machen, französisch wird es doch; also mit Anstand
aus der Affaire heraus, damit wir endlich aus den Friktionen mit Frankreich
herauskommen, jetzt wo große Fragen auf dem Spiele stehen. Wenn der Sultan
in seiner Noth den Krieg erklärt und in Stambul die Grüne Fahne des Heil.
Kriegs entrollte, würde ich ihm das nicht sonderlich verdenken, und den
Christen — falschen Galgenvögeln — auf dem Balkan wäre es gesund!