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ähnlicher Weise, wie das gemeine Recht, ent-
wickelte sich das Lehenrecht. In Ermanglung einer
eigentlichen gesetzgeberischen Fortbildung bemäch-
tigte sich die Tätigkeit einzelner des Gegenstands
und veranstaltete Aufzeichnungen der geltenden
Gewohnheiten, welche im Lauf der Zeit gesetz-
liches Ansehen erhielten. Es sind dies die Libri
feudorum, ein Werk von gründlicher Durch-
arbeitung und ähnlicher Folgerichtigkeit wie das
Corpus juris. Die Reichs= und Landesgesetz-
gebung im eigentlichen Sinn der damaligen Zeit
ist ganz bedeutungslos, einige ältere Stadtrechte
ausgenommen.
Und nun vollzog sich eine der merkwürdigsten
rechtsgeschichtlichen Entwicklungen, welche die
Weltgeschichte kennt: die Unterbrechung der Rechts-
entwicklung eines Kulturvolks und die allmähliche
Verdrängung des einheimischen Rechts dieses
Volks durch ein fremdes Recht auf durchaus
friedlichemn Weg. Die Möglichkeit eines solchen
Vorgangs war allerdings gegeben durch die Un-
tätigkeit der gesetzgebenden Gewalt, doch ist diese
Untätigkeit nicht die einzige Ursache der Erschei-
nung. Die Gründe sind verschiedener Art. Zu-
nächst lag für den Stand der Juristen ein un-
gemeiner Vorteil darin, daß in dem römischen
Recht ein geschriebenes Recht vorlag, auf welches
man zu jeder Zeit und unter allen Umständen
zurückgreifen konnte, während die Aufsuchung der
verschiedenen Rechtsgewohnheiten öfters eine zeit-
raubende, mühevolle und zuletzt doch vergebliche
Arbeit war. Die Vorliebe der Juristen für das
römische Recht ist schon hieraus genügend erklärlich.
Hierzu kommt noch der außerordentliche Einfluß
der Rechtsschule von Bologna, welche von den
Juristen aller Länder, auch Deutschlands, zum
Zweck des Rechtsstudiums besucht wurde. Auf
dieser infolge des Aufschwungs des Rechtsstudiums
im 12. und 13. Jahrh. oft von 121000 Studenten
besuchten Universität wurde römisches Recht gelesen
und glossiert und von den Studierenden in ihre
Heimat mitgebracht. Dabei genoß diese Hoch-
schule ein solches Ansehen, daß nur diejenigen
Stellen des Corpus iuris, welche die Lehrer in
Bologna einer Erklärung, der sog. Glosse, für
würdig hielten, als Teile des römischen Rechts
betrachtet wurden. Die von Bologna nach Hause
zurückgekehrten Juristen suchten nun das ihnen
geläufige Recht in der Praxis der deutschen Ge-
richte und anderweit zur Anwendung zu bringen,
so daß, bei den oft von ihnen eingenommenen
einflußreichen Stellungen in der Nähe der Fürsten
als Kanzler, das einheimische Recht bald in den
Hintergrund zurücktrat. Erleichternd wirkte die
Annahme, daß das heilige römische Reich deut-
scher Nation eine Fortsetzung des römischen Reichs
sei; unrichtig ist dagegen, daß die Einführung
des römischen Rechts von den Reichsfürsten, als
deren Machtbefugnissen und Bestrebungen günstig,
befördert worden sei. Im 13. und 14. Jahrh.,
in welchen die Aufnahme des römischen Rechts in
Zivilgesetzgebung.
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Deutschland als wenigstens subsidiäres „kaiser-
liches Recht“ vollendet wurde, hatten die deutschen
Reichsfürsten den Weg zu jener ausschreitenden
Ausdehnung ihrer Regierungsrechte, den sie nach
der Reformation einschlugen, noch nicht anzutreten
versucht. Auch der Umstand war von durch-
schlagender Bedeutung, daß im Mittelalter in
Kirche und Staat das Interesse an dem klassischen
Altertum und dessen Einrichtungen wiedererwachte,
die sog. Renaissance. Die beiden klassischen Kultur-
staaten waren Griechenland und Rom. Man be-
trieb mit Vorliebe das Studium der griechischen
und römischen Sprache, las die Klassiker dieser
Völker und gewann dadurch eine nicht immer ge-
rechtfertigte Sympathie für alles, was für diese
Staaten von kultureller Bedeutung war. Es war
nicht auffallend, daß man mit jener Übertreibung,
die gewöhnlich mit der Einseitigkeit verbunden ist,
durch das ja allerdings durchgebildete römische
Recht das unbehilflichere Heimatsrecht verdrängen
ließ, um neben andern klassischen Errungenschaften
auch ein „klassisches Recht“ zu haben (vol. dazu
d. Art. Recht, deutsches).
Neben dem römischen Recht ist auch das kano-
nische Recht insofern zu erwähnen, als seine das
römische Recht abändernden Bestimmungen zu-
gleich mit dem römischen Recht in Deutschland
Aufnahme fanden. Doch sind seine zivilrechtlichen
Vorschriften von geringer Bedeutung. Es erkannte
die Ehen der Sklaven als solche an und beförderte
dadurch die allmähliche Aufhebung der Sklaverei.
Auch im Erbrecht nahm es einige Abänderungen
vor, erklärte die einfachen Verträge für klagbar
und den fortdauernden guten Glauben für ein
Erfordernis einer jeden Verjährung (nulla nec
civilis nec canonica praescriptio sine bona
fide). Bekannt sind die kanonischen Vorschriften
über das Zinsennehmen.
Die deutsche Reichsgesetzgebung hat sich
auch nach der Einführung des römischen Rechts
sehr wenig mit dem Zivilrecht beschäftigt. Zu
erwähnen sind nur: 1. die verschiedenen Reichs-
kammergerichtsordnungen von 1496, 1521, 1535;
2. die Notariatsordnung Maximilians I. von 1512
über Testamente; 3. das Reichsgesetz Karls V.
von 1529 über die Erbfolge der Geschwister-
kinder; 4. die Reichspolizeiordnungen von 1503,
1548 und 1577 über das Konkubinat; 5. der
jüngste Reichsabschied von 1654.
Dieser Darstellung der Zivilgesetzgebung des
heiligen römischen Reichs deutscher Nation ist noch
der Hinweis darauf hinzuzufügen, daß auch der
Talmud neben religiösen und Zeremonialvor=
schriften eine Anzahl von zivilrechtlichen Bestim-
mungen enthielt, nach welchen die Juden des
Mittelalters sich in zahlreichen Fällen, unter An-
erkennung dieser ihrer autonomen Rechtsquellen
durch die gesetzgebende Gewalt, richteten (val.
darüber Fassel, Mosaisch-rabbinisches Zivilrecht,
1852;: Rabbinowicz, Législation civile du
Talmud, Paris 1877).