Brief des
Kronprinzen
an Bülow
410 DER KRONPRINZ UND DER POMMERSCHE GRENADIER
einem europäischen Krieg, in den Frankreich verwickelt wäre, habe für
Frankreich nicht entfernt den gleichen Wert. Es war mir geglückt, diesen
verständigen Artikel durch eine mir seit langem befreundete Dame in das
führende Pariser Blatt bringen zu lassen. Der französische Botschafter in
Konstantinopel, Herr Constans, sagte zu seinem deutechen Kollegen, dem
Freiherrn von Marschall: „Si les Russes croient que nous allons faire la
guerre pour leurs beaux yeux, ils se fourrent le doigt dans l’oeil.‘“ Die vor-
sichtige und zurückhaltende Haltung der Franzosen in einem Augenblick,
wo ein großer Krieg in den Bereich der Möglichkeiten rückte, war auch auf
die Unterhandlungen zurückzuführen, die ich nach dem äfrgerlichen
Zwischenfall bei Casablanca mit den Franzosen wegen Marokkos aufge-
nommen hatte und die schließlich, am 9. Februar 1909, zu dem besten Ab-
kommen führten, das über den Maghreb el Aksa zwischen uns und Frank-
reich zustande gekommen ist. Wir räumten den Franzosen in politischen
Dingen den Vortritt ein, ohne ihnen die völlige Unterwerfung des Landes
zuzugestehen, dessen Integrität und Souveränität nochmals von der franzö-
sischen Regierung zugesichert wurde. Dagegen sicherten uns die Franzosen
in Marokko die volle wirtschaftliche Gleichberechtigung zu, worauf es in
erster Linie ankam.
Während meiner Unterhandlungen mit Frankreich über Marokko hatte
ich am 2. Oktober 1908 vom Kronprinzen einen Brief erhalten, in dem er
unter Bezugnahme auf einen alarmierenden Artikel der alldeutschen ultra-
chauvinistischen „Rheinisch-Westfälischen Zeitung“, welche die Ent-
sendung eines deutschen Kriegsschiffes nach Casablanca verlangte und dabei
mir vorgeworfen hatte, ich hätte unserem „früher ehrliebenden und furcht-
losen Volke“ den Gedanken beigebracht, daß Ruhe und Friede höher zu
schätzen wären als Ehre und Krieg, mir Nachstehendes schrieb: „Euer
Durchlaucht bitte ich zunächst, den Blei zu entschuldigen, aber hier im
Jagdhaus, wo ich zur Zeit weile, sind die Schreibmaterialien sehr mangel-
haft. Sie sind stets so freundlich und offen gegen mich gewesen, und wir
haben so manche politische Frage zusammen erörtert, daß ich mir den Mut
nehme, Ihnen folgendes zu schreiben. Ich bin der festen Überzeugung,
daß dieser Casablanca-Zwischenfall keine zufällige Sache ist, sondern
eine französische Kraftprobe, festzustellen, wieviel wir uns bei unserer
Friedensliebe gefallen lassen. Ich spreche jetzt im vollen Ernst und nach
reiflicher Überlegung und in dem Gedanken, daß ich später einmal die
Folgen tragen werde. Wenn den Franzosen diese Sache durchgeht, olıne daß
sie uns absolute und klare Genugtuung geben und ganz gehörig sich ent-
schuldigen, ist unser Ansehen auf lange Zeit dahin. Unsere Ehre ist sehr
stark engagiert, und es ist die höchste Zeit, daß die freche Bande in Paris
einmal wieder fühlt, was der pommersche Grenadier kann. Glauben mir