Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

WILHELM Il. UND SEIN SOHN 413 
anfing, niederschlagen, bevor es stärker werde. Seitdem haben wir mit 
Frankreich Frieden durch dreiunddreißig Jahre, in denen unser Wohlstand 
und unsere Bevölkerung sich ganz außerordentlich gehoben haben. 1887 
und 1888 wurden Fürst Bismarck lebhafte Vorwürfe gemacht, weil er gegen 
Rußland nicht den sogenannten prophylaktischen Krieg führen wollte. 
Es hieß Jamals allgemein, dieser Krieg sei doch unvermeidlich. Seit zwanzig 
Jahren haben wir trotzdem F’rieden mit Rußland. Ich wiederhole, daß wir, 
wenn es sein muß, wie der große König, auch gegen eine Welt in Waffen 
kämpfen würden. Allein wir müßten uns auch dann bewußt bleiben, daß 
ein Krieg heutzutage eine sehr ernste Sache sein würde, viel ernster als vor 
achtunddreißig Jahren, denn die französische Armee ist jetzt besser als 
damals. Außerdem würde ein Krieg mit Frankreich voraussichtlich einen 
solchen mit England bedeuten. Wenn wir Frankreich angriffen, würde auch 
Rußland für Frankreich eintreten. Unter diesen Umständen scheint es mir 
angesichts der recht schwierigen Lage, in der sich Europa gegenwärtig be- 
findet, hauptsächlich darauf anzukommen, daß wir unser Pulver trocken 
halten, daß wir alles daransetzen, unsere Armce auf der Höhe zu halten, 
und im übrigen kaltes Blut bewahren.“ 
Der Kronprinz besaß weder die ungewöhnlich rasche Auffassung seines 
Vaters noch dessen rednerische Begabung. Es fehlte ihm auch der persön- 
licbe Charme, mit dem Wilhelm II. namentlich bei der ersten Begegnung 
und bevor seine Fehler und Schwächen hervortraten, viele Menschen be- 
zaubert hat. Der Kronprinz hatte aber von seiner verständigen Mutter 
einen vorsichtigen, nüchternen Zug geerbt, der seinem Herrn Vater leider 
abging. Bei größerer Besonnenheit hatte der Sohn doch gleichzeitig 
widerstandsfähigere Nerven als der Vater. Der Kronprinz war, wie alle 
seine Brüder, wie sein Onkel Prinz Heinrich, wie Kaiser Friedrich und 
Kaiser Wilhelm I., wie Prinz Friedrich Karl und Prinz Albrecht, ganz 
furchtlos. Er würde, wenn er auf den Thron gelangt wäre, die Welt weniger 
in Erstaunen gesetzt haben als scin Vater, er hätte die allgemeine Auf- 
merksamkeit weit weniger auf sich gelenkt, er hätte aber nicht so oft wie 
der Vater Souveräne, Minister und ganze Völker vor den Kopf gestoßen. 
Es wäre leichter gewesen, mit ihm zu regieren als mit Wilhelm II. Ich 
bin nach unserem Unglück bisweilen gefragt worden, warum ich die 
Novemberereignisse nicht benutzt hätte, um den Kronprinzen an die 
Stelle seines Vaters zu setzen. Ich habe darauf erwidert und erwidere heute: 
Ich hatte Wilbelm II. als Minister Treue geschworen und würde unter keinen 
Umständen meinen dem König und Kaiser geleisteten Eid gebrochen 
haben. Eine unfreiwillige, durch Überredung, drängenden Zuspruch, 
Überrumplung oder List herbeigeführte Abdankung des Kaisers war für 
mich ausgeschlossen. Ich würde mich einem Versuch von dritter Seite,
	        
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