Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

Wilhelm II. 
und Renvers 
422 EIN MEDIZINISCHER TERMINUS TECHNICUS 
warmem Händedruck seinen Dank. „Sie haben‘, sagte er ihm, „durch 
Ihre Kunst, aber auch durch Ihre Hingebung und Herzensgüte der armen 
Kaiserin ihre entsetzlichen Qualen so weit erleichtert, als dies in mensch- 
licher Kraft stand.“ 
Als die Berliner Zeitungen am nächsten Morgen ohne jedes Zutun von 
amtlicher Seite über den Besuch des Königs von England im Rathaus be- 
richteten, erwähnten einige von ihnen, daß der englische Monarch den 
Professor Dr. Renvers, der bekanntlich die Schwester des Königs, die 
Kaiserin Friedrich, während ihrer letzten Krankheit behandelt hätte, 
freundlich angesprochen habe. Einer dieser Artikel war ohne Einwirkung 
von mir von der Presseabteilung unter den üblichen Zeitungsausschnitten 
dem Kaiser vorgelegt worden. Zornig schrieb Seine Majestät an den Rand: 
„Unsinn! Meine Mutter hat Renvers gar nicht gekannt!“ Ich zeigte dieses 
Marginal vertraulich an Renvers. Er war sehr betroffen. „Das ist übel“, 
sagte er, „das ist beinahe krankhaft.‘“ Er fügte hinzu, daß ihm 1899 nach 
eingeholter Genehmigung des Kaisers die Behandlung der an einem 
Karzinom erkrankten Kaiserin Friedrich übertragen worden wäre. „Bevor 
der Kaiser“, sagte mir Renvers wörtlich, „im Todesjahr der Kaiserin Fried- 
rich 1901 seine Nordlandreise antrat, empfing er mich zu längerer Unter- 
redung. Er machte mir zur Pflicht, ihn, sofern sich der Gesundbheitszustand 
der Mutter verschlimmere, so rechtzeitig zu benachrichtigen, daß er sie 
noch lebend antreffe. Dies ist auch geschehen, und Seine Majestät der 
Kaiser hat mit mir, dem behandelnden Arzt, während der ganzen Agonie, 
viele Stunden lang am Bett der Sterbenden gestanden.“ Nach dem Tode 
seiner Mutter hatte der Kaiser noch eine sehr lange Unterredung mit 
Renvers über die Natur der Krebskrankheit gehabt. Und nun dieses 
Marginal! Ich frug Renvers, wie er als Arzt diesen Fall beurteile. Er meinte: 
„Wenn der Kaiser ein gewöhnlicher Patient wäre, würde ich auf Pseudo- 
logia phantastica diagnostizieren.‘“‘ Als ich weiter frug, was dieser ärztliche 
Terminus technicus bedeute, meinte Renvers lächelnd: „Hang zum Fabu- 
lieren, vulgo Lügen !“ Wir erörterten, was da zu machen wäre. Der erfahrene 
Arzt, dessen Spezialität Nervenleiden waren, setzte mir auseinander, daß 
solche Pseudologie gerade bei Neurasthenikern häufig sei. Man könne damit 
sehr alt werden, auch vieles betreiben und manches leisten. Dieser Defekt 
sei mit großer, ja glänzender Begabung durchaus vereinbar. Für ein ver- 
ständiges Regieren sei die Pseudologia phantastica freilich nicht förderlich. 
Was dagegen zu tun wäre? Das habe er, Renvers, mit dem alten Leibarzt 
Seiner Majestät, dem Generalarzt von Leuthold, schon früher öfters be- 
sprochen. Es gäbe nur ein Heilmittel für Neurasthenie: körperliche und 
geistige Ruhe, innere Sammlung, Selbstzucht. „Wenn Sie‘, äußerte 
Renuvers, „vom Kaiser erreichen könnten, daß er täglich zwei Stunden
	        
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