‚Annäherung
an England
vorbereites
426 ENGLISCHE REALPOLITIK
die ihn ebenso zum Leiter eines großen Wirtschaftskonzerns befähigt
hätten, wie sie ihn zu einem erfolgreichen konstitutionellen Monarchen
eines parlamentarisch regierten Weltreichs qualifizierten.
In der Begleitung des Königs befand sich der Lordpräsident des Ge-
heimen Rats, der Earl of Crewe, ein Schwiegersohn des Earl of Rosebery,
der 1886 und 1892 Minister des Äußern und 1894 bis 1895 Premierminister
gewesen war. Lord Crewe war ein guter Typus des vornehmen englischen
Staatsmanns, wie sie seit Jahrhunderten mit Common sense, mit Zähigkeit
und Festigkeit, mit unerschütterlicher Ruhe, mit traditionellem Verständ-
nis für die Voraussetzungen gesunder Realpolitik das englische Weltreich
regiert, erhalten und vergrößert haben. Lord Crewe sprach sich mir gegen-
über ebenso friedlich und verständig aus wie sein Souverän. Aber auch er
betonte, wie wünschenswert ein Flotten-Agreement zwischen uns sein
würde. Er gebe mir vollkommen zu, daß die englischen Besorgnisse vor
der doch noch viel schwächeren deutschen Flotte übertrieben wären. Ich
dürfe aber nicht vergessen, daß nicht nur das englische Weltreich, sondern
auch das englische Mutterland mit seiner absoluten Sicherheit zur See,
seiner Herrschaft über die Meere und seiner Unangreifbarkeit stehe und
falle. England wolle weder die deutsche Industrie noch den deutschen
Handel noch die deutsche Schiffahrt, überhaupt nicht das Deutsche Reich
schädigen oder gar vernichten. Deutschland sei ja Englands bester Kunde
und umgekehrt. Aber gerade weil die Deutschen ein ausgesprochenes
Organisationstalent besäßen, weil die junge deutsche Flotte eine ganz vor-
zügliche Flotte sei, wollten die Engländer nicht, daß es ihnen gegenüber
Deutschland zur See ginge, wie es 1866 den Österreichern, 1870 den Fran-
zosen gegenüber Deutschland zu Lande gegangen war.
Als einige Wochen später im Reichstag der Etat für den Reichskanzler
und die Reichskanzlei beraten wurde, benutzte ich die Gelegenheit, den
Besuch des englischen Königspaars in seinem harmonischen Verlauf als
ein in jeder Beziehung glückliches Begebnis zu bezeichnen*. Die vom
König in Berlin gehaltenen Ansprachen, die durch die englische Thronrede
und die bei der Adreßdebatte des englischen Parlaments gehaltenen Reden
bekräftigt worden wären, hätten beiden Völkern wieder einmal deutlich
zum Bewußtsein gebracht, wie viel Grund sie hätten, sich gegenseitig zu
achten und friedlich, in Friedensarbeit miteinander zu wetteifern. Ich
fuhr fort: „Das Netzwerk ihrer Beziehungen ist nicht so leicht zu zerstören,
soviel auch von mutwilligen Händen daran gezerrt worden sein mag: denn
es hat, von allen ideellen Werten abgesehen, seine Festigkeit dadurch er-
langt, daß ein großer Teil der Arbeit beider Völker mit hineinverknüpft
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe III, 179; Reclam-Ausgabe V, 117.