Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

428 RATHENAU ÜBER ENGLAND 
so bequem durchführbar, wie es auf den ersten Blick erscheine. England sei 
nicht mehr so ausgabefroh wie früher. Es hieß dann wörtlich: „In hohem 
Maß beachtenswert ist es, daß beide Sorgen, die industrielle und die kolo- 
niale, den englischen Blick nach Deutschland hinüberlenken. Hier sitzt der 
Konkurrent und der Rivale. Aus allen Unterhaltungen mit gebildeten Eng- 
ländern klingt es heraus, bald als Kompliment, bald als Vorwurf, bald als 
Ironie: Ihr werdet uns überflügeln, ihr habt uns überflügelt. Und ein drittes 
gewichtiges Moment tritt binzu, das wir uns in der Heimat nicht immer ver- 
gegenwärtigen: die Beurteilung Deutschlands, wie es sich dem Außen- 
stehenden darstellt. Man blickt von außerhalb in den Völkerkessel des 
Kontinents und gewahrt, von stagnierenden Nationen eingeschlossen, ein 
Volk von rastloser Aktivität und enormer physischer Expansion. Acht- 
hunderttausend neue Deutsche jährlich! Jedes Lustrum eine additionelle 
Bevölkerung, nahezu gleich der von Skandinavien oder der Schweiz! Und 
man fragt sich, wie lange das evakuierte Frankreich dem Atmosphären- 
druck dieser Bevölkerung standhalten könne. So substantiiert und lokali- 
siert sich jede englische Unzufriedenheit im Begriffe Deutschland. Und 
was bei den Gebildeten als motivierte Überzeugung auftritt, das äußert sich 
beim Volk, bei der Jugend, in der Provinz als Vorurteil, ale Haß und 
Phantasterei in einem Umfange, der weit über das Maß unserer journalisti- 
schen Apperzeption hinausgeht. Es wäre schwächlich und oberflächlich, 
wollte man glauben, daß kleine Freundlichkeiten, Deputationsbesuche 
oder Pressemanöver Unzufriedenheiten stillen können, die aus so tiefen 
Quellen fließen. Nur unsere Gesamtpolitik ist imstande, England wenigstens 
diesen Eindruck zu verschaffen, daß von Deutschlands Seite aus keine 
Verstimmung, keine Furcht, kein Expansionsbedürfnis und keine Offensive 
besteht. Die Massen werden hierdurch nicht überzeugt, wohl aber die Re- 
gierungen im Bewußtsein ihrer Verantwortung erhalten werden.“ Ich legte 
diesen Ausführungen um so mehr Wert bei, als Rathenau, sehr ambitiös, 
sehr besorgt, nicht an Allerhöchster Stelle anzustoßen, im übrigen in diesem 
Promemoria sichtlich bestrebt war, sich nicht mit den ihm wohlbekannten 
Allerhöchsten Wünschen und Ambitionen in Widerspruch zu setzen. Er 
schloß seine Denkschrift mit einer Wendung, die aus der Feder von Tirpitz 
hätte fließen können, nämlich mit der Behauptung, daß mit jedem Jahre, 
das vergehe, das maritime Machtverhältnis sich für uns günstiger gestalte 
und hierdurch „eine allmähliche Konsolidierung‘ eintrete. Vorher aber 
stand der kluge Satz: „Ist es zutreffend, daß seit dem Aufhören der 
Eroberungskriege es vorwiegend ratlose Verlegenheiten gewesen sind, 
die europäische Konflikte veranlaßt haben, so ergibt sich von neuem der 
Anlaß, nichts zu versäumen, was zur politischen Beruhigung beitragen 
kann.“
	        
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