„IMMER FESTE AUF DIE WESTEIM 489
auf ganz bestimmte Fälle beschränkte Enteignungsvorlage ziemlich über-
trieben finde. In einem Blatt, das seinerzeit meine Enteignuugspolitik
heftig bekämpfte, im „Berliner Tageblatt“, las ich um die Weihnachtszeit
1922: „Hinter der erschreckenden Ziffer der seit der Besitzergreifung
deutschen Landes durch die Polen allein aus Posen und Westpreußen ver-
triebenen siebenmalhunderttausend Deutschen steigt die ganze Mensch-
heits- und Kulturtragödie herauf, die sich hinter den Grenzmauern des
neuen Polen, innerhalb des deutschen Posen, Westpreußen und Ober-
schlesien abspielt.‘ ‚Seht, wir Wilden sind doch beßre Menschen! läßt
Seume seinen Kanadier sagen.
Als ich dem Kaiser gemeinsam mit dem Landwirtschaftsminister Arnim-
Krieven und dem Finanzminister Rheinbaben über die Enteignungsfrage
Vortrag hielt, hub ich mit Ernst und rückhaltlos alle Bedenken hervor, die
ich gegen diese gesetzgeberische Maßnahme gehegt und nur schwer und nur
angesichts einer Dira necessitas in mir überwunden hätte. Wilbelm II.
ging rasch und mit Ungeduld über meine Skrupel weg. „Nur immer feste
auf die Weste!“ meinte er. „Ich wünsche seit langem ein solches Gesetz!
Endlich!“ Als der Vortrag zu Ende war und wir die Marmortreppe hin-
untergingen, die in breiten, eckigen Windungen die verschiedenen Stock-
werke des Schlosses verbindet, frug mich der eifrige und redliche Rhein-
baben erstaunt und beinahe unwillig: „Warum in aller Welt haben Eure
Durchlaucht in den schäumenden köstlichen Wein der kaiserlichen Be-
geisterung für unsere Vorlage den Wermut Ihrer Zweifel und Bedenken
gegossen ?““ Ich entgeguete, daß ich es für meine Pflicht gehalten habe,
wie bei jedem gewagten Vorgehen auch diesmal Seiner Majestät das Pro
wie das Contra gewissenhaft vorzutragen. Ich fügte hinzu: „Freuen wir uns,
wenn Seine Majestät bei der Stange bleibt. Den Kaiser für neue Ideen,
ein neues Unternehmen zu begeistern, ist leicht. Aber zu erreichen, daß er
durchhält, daß er, wenn Schwierigkeiten und Gefahren eintreten, nicht aus-
biegt oder umfällt, das ist nicht eo leicht.“ Es dauerte auch nicht lange,
daß Wilhelm II., namentlich unter dem Einfluß seines Günstlings, des
Fürsten Max Fürstenberg, in der Enteignungsfrage ins Schwanken geriet,
daß er diese Maßnahme tadelte, daß er sie rückgängig machen wollte, und
nach meinem Rücktritt wurde die Enteignungsvorlage für Seine Majestät
ein Lieblingsthema, um meine politische Beschränktheit und moralische
Minderwertigkeit zu beweisen. Immerhin: Quod licet Jovi, non licet bovi.
Jupiter hat Rechte und Freiheiten, die dem Bos nicht zustehen.
Während der Chef der Reichskanzlei, Loebell, meine Bedenken und Zwei-
fel gegenüber der Enteignung würdigte, in sich erwog und durcharbei-
tete, überbot der Vortragende Rat in der Reichskanzlei, Wahnschaffe,
wegen seiner glänzenden Fassade der „schöne“ Wahnschaffe genannt, in
Die
Enteignung
polnischen
Großgrund-
besitzes