Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

44 WITTE KEIN SLAWOPHILE 
komitees ist ja in Rußland eine reine Sinekure. Ebensogut hätten Sie mich 
nach dem Kaukasus oder nach Sibirien verschicken können‘.““ Nach einer 
kleinen Pause fügte Witte nicht ohne eine gewisse Rührung in der Stimme 
hinzu: „Nun werden Sie sehen, daß der Kaiser auch wieder gute Seiten hat. 
Am selben Abend schickte er mir ein dickes Kuvert, in dem 400000 Rubel 
waren.“ Witte war augenscheinlich stolz auf dieses Schmerzensgeld. 
Witte war ein überzeugter Anhänger guter Beziehungen zwischen seinem 
Vaterland und Deutschland. Nicht als ob er besondere Sympatbhien für die 
Deutschen empfunden hätte. Er zog Paris als Stadt Berlin vor, die Fran- 
zosen gefielen ihm persönlich besser als die Deutschen, die Engländer und 
Amerikaner imponierten ihm in höherem Grade. Aber er war überzeugt, 
daß von der Aufrechterhaltung des Friedens und guter Beziehungen zwi- 
schen Deutschland und Rußland das Schicksal des russischen Kaiserhauses 
abhing, und bei aller Ranküne gegen den derzeitigen Zaren und obschon 
nicht ohne gelegentliche liberale Anwandlungen, war er durchaus mon- 
archisch gesinnt. Er war schon 190% der Meinung, daß der Sturz der Mon- 
archie in Rußland das Signal für Anarchie, Elend, Ruin und Zerrüttung 
des Riesenreichs bedeuten würde. Ähnlich wie mancher andere russische 
Staatsmann mißbilligte und verachtete Witte die slawophile Schwärmerei 
für die Balkanvölker, die Rußland seine Blut- und Geldopfer, alle, ohne 
Ausnahme, die Serben früher, die Bulgaren später, die Griechen und 
Rumänen bei jeder Gelegenheit, mit schnödem Undank gelohnt hätten. 
Rußland brauche keine Vergrößerung, es sei cher zu umfangreich. Nicht 
nur in Sibirien und in Turkestan, auch im Kaukasus und selbst im euro- 
päischen Rußland warteten ungeheure Flächen darauf, bebaut und kul- 
tiviert zu werden, wären noch unermeBßliche Bodenschätze zu heben. Der 
Besitz von Konstantinopel würde für Rußland ein zweifelbaftes Glück sein. 
Kaiser Nikolaus I. habe einmal an den Rand eines Berichts, in dem gesagt 
worden war, das orthodoxe Kreuz müsse wieder auf der Sophienkirche auf- 
gepflanzt werden, mit fester Hand geschrieben: „In der Theorie ist das 
schön und gut, aber in Wirklichkeit wäre der Besitz von Konstantinopel 
kein Glück für Rußland, eher ein Moment der Schwäche als der Stärke. 
Wollen wir drei Hauptstädte haben ? Petersburg, die Schöpfung des größten 
russischen Kaisers, das wir doch nicht aufgeben können, das heilige Mütter- 
chen Moskau, das wir noch weniger aufgeben können, und endlich Byzanz ?“ 
Witte war erst recht mit Entschiedenheit gegen jede Gebietserweiterung des 
russischen Reichs in Europa. Ostpreußen? Rußland habe schon genug 
Deutsche. Posen? Rußland habe schon genug Polen. Galizien? Rußland 
habe schon genug Juden. Der Hauptgrund aber, aus dem Witte ein Ver- 
treter des Friedens und der Eintracht mit dem deutschen Nachbar war, 
lag in seiner felsenfesten Überzeugung, der er, wie ich höre, bis zum letzten
	        
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