56 „IN LIPPE ALLES AUF DER KIPPE*“
deutscher Reichsherrlichkeit. An den Rand der ihm von mir vorgelegten
Zeitungsartikel, die seine Romintener Depesche heftig tadelten, schrieb er
kleine Scherze, mit besonderer Vorliebe „In Lippe — steht alles auf der
Kippe“ und ähnliche jokose Marginalien.
Gegenüber dieser Sachlage richtete ich an den Vizepräsidenten Hoff-
mann ohne vorherige nochmalige Anfrage bei Seiner Majestät das nach-
stehende Schreiben: „Geehrter Herr Kommerzienrat! Sie haben mich
heute mündlich um eine authentische Interpretation des Telegramms
Seiner Majestät des Kaisers und Königs vom 26. v. M. gebeten. Ich bin
gern bereit, Ihnen meine Antwort schriftlich zu bestätigen, und ermächtige
Sie, unter Berufung auf mich öffentlich zu erklären, daß Seine Majestät der
Kaiser mit diesem Telegramm lediglich bezweckt hat, die vorläufige Nicht-
vereidigung der Truppen für den Regenten und den Grund derselben mit-
zuteilen. Mit der Auffassung des Bundesrates, daß die Rechtslage noch
ungeklärt sei, konnte Seine Majestät sich nicht in Widerspruch setzen.
Jeder Eingriff in die verfassungsmäßigen Rechte des Fürstentums hat
Seiner Majestät dem Kaiser selbstverständlich ferngelegen, und insbe-
sondere liegt es außerhalb Allerhöchstseiner Absicht, der derzeitigen Aus-
übung der Regentschaft im Fürstentum durch den Herrn Grafen Leopold
zu Lippe irgendwelches Hindernis zu bereiten. Wie stets im Reiche wird
auch im vorliegenden Falle der Rechtsboden nicht verlassen werden, und
die Lippesche Frage wird ihre Erledigung ausschließlich nach Rechtsgrund-
sätzen finden. Ich hoffe, daß es unter den Auspizien des Bundesrats bald
gelingen wird, auf schiedsrichterlichem Wege zum Wohle des Lippeschen
Landes zu einer endgültigen Lösung der Frage zu gelangen, und werde das
meinige tun, um dieses Ziel in möglichst kurzer Zeit zu erreichen. In vor-
züglicher Hochachtung Graf von Bülow, Reichskanzler.““ Ich ließ dieses
Schreiben sogleich durch Wolff verbreiten und übersandte es ohne weiteren
Kommentar an Seine Majestät. Der Kaiser hatte mir unmittelbar nach dem
Eingang der Nachricht vom Tode des Grafen Ernst kurz und bündig tele-
graphiert: „Biesterfelder ist tot. Ich erkenne selbstverständlich den Sohn
nicht an.“ Nachdem er von meinem Schreiben an Hoffmann Kenntnis er-
halten hatte, telegraphierte mir Seine Majestät in direktem Gegensatz zu
seiner früheren Willensmeinung: „Mit allem einverstanden. Bin erstaunt
über die fabelhaft malveillante und absichtliche Verdrehung, mit der Mein
gänzlich harmloses, streng geschäftliches Telegramm wieder gegen besseres
Wissen verdreht worden ist. Ihre Antwort an Hoffmann entspricht wörtlich
Meinen Ansichten, die eigentlich sich klar daraus lesen lassen. Diese Wirt-
schaft nenne ich chercher midi ä quatorze heures.‘‘ Nach Berlin zurück-
gekehrt, setzte ich eine Sitzung des Bundesrats an, in der ich der hohen
Versammlung darlegen konnte, daß die leidige Lippesche Sıreitfrage