Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

„MORTE A GIOLITTI" 59 
und das sie dann leider antipathisch oder ridikül erscheinen läßt, liegt ihm 
fern. Giolitti wurde 1889 zum erstenmal Minister, Schatzminister, ein Jahr 
später Finanzminister, 1892 Ministerpräsident. Er stürzte im November 
1893, wie ich seinerzeit erzählte, über die in Sizilien und in der Lunigiana 
ausgebrochenen Aufstände. Als ich im Dezember 1893 in Rom eintraf, galt 
Giolitti dort als ein für immer erledigter Mann. In einem römischen Salon 
charakterisierte ihn damals der geistreiche Duca Onorato Sermoneta unter 
allgemeinem Beifall mit den Worten: „Una mortadella di Bologna, mezzo 
asino, mezzo porco.‘ Die übrigens recht schmackhafte Wurst, die man in 
Italien „Mortadella di Bologna“ nennt, wird halb aus Schweine-, halb aus 
Eselfleisch zubereitet. Von Crispi verfolgt, brachte Giolitti den Winter 
1893 auf 1894 in Deutschland, in Charlottenburg bei Berlin, zu. Aber dieser 
hochgewachsene Manu mit den breiten Schultern und dem schweren Gang 
besaß zu große staatsmännische Eigenschaften, als daß man ihn nicht bätte 
zurückrufen sollen. Von 1901 bis 1903 war er wieder Minister des Innern, 
im März 1905 und seitdem wiederholt Ministerpräsident. Selbst in Italien 
hat kaum ein anderer Staatsmann so oft den Weg vom Kapitol hinab zum 
Tarpejischen Felsen und wieder vom Tarpejischen Felsen hinauf zum 
Kapitul durchmessen. Im Mai 1915 durchzogen von der Französischen Bot- 
schaft und dem damaligen Ministerpräsidenten Salandra bezahlte Banden 
mit dem Rufe „Morte a Giolitti!“ die Straßen Roms. Wenige Jahre später 
rief ganz Italien nach demselben Giolitti, und als er 1921 wieder als Minister- 
präsident den Senat betrat, erhoben sich alle Mitglieder, darunter nicht 
wenige alte Gegner, und verneigten sich schweigend vor ihm. 
Als Giolitti im Herbst 1904 mit mir durch die schönen Wälder schritt, 
die Homburg umgeben — Giolitti ist wie ich ein großer Spaziergänger —, 
brachte er zunächst das Gespräch auf den empfindlichsten Punkt des 
Dreibundes und das schwierigste Problem der italienischen auswärtigen 
Politik, nämlich das Verhältnis Italiens zu Österreich. Das Kabinett 
Zanardelli habe dem Irredentismus zu sehr die Zügel schießen lassen. 
Aber andererseits, fuhr Herr Giolitti fort, würde die österreichische Re- 
gierung wohl daran tun, gegenüber ihren italienischen Untertanen eine we- 
niger unfreundliche und weniger unkluge Politik zu führen. Schon infolge 
ihrer geringen Zahl könnten die Italiener in Zisleithanien dem öster- 
reichischen Staatsgedanken gar nicht wirklich gefährlich werden. Warum 
sie in die Opposition gegen den österreichischen Staat und das deutsche 
Bevölkerungselement treiben? Das natürliche sei doch, daß Italiener und 
Deutsche gegen die Slawen zusammenhielten. Italien wolle sich in Albanien 
nicht engagieren, dies müsse aber auch für Österreich ein Noli me tangere 
sein. Die Adria frei zu erhalten, sei eine Lebensfrage für Italien, das auf der 
Balkanhalbinsel gewiß Österreich nicht verdrängen wolle, dort aber auch 
Giolitti über 
die Irredenta
	        
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