DER ERKRANKTE HELLMUTH MOLTKE 205
sagen, ihre gemeinsame Großmutter, die Königin Victoria, hätte sich sicher
im Grabe umgedreht, als ihr englischer Enkel ihrem deutschen Enkel den
Fehdehandschuh hingeworfen habe.
Es berührte mich schmerzlich, daß selbst die bitteren Lehren der ersten
Kriegsnionate Wilhelm II. nicht zu sachlicher und nüchterner Beurteilung
der Ereignisse hatten bringen können. Als ich darauf hinwies, daß die eng-
lische Politik, namentlich seit der Thronbesteigung des Königs Georg V.,
von den Ministern mit dem Parlament gemacht würde, sah mich der Kaiser
einen Augenblick gereizt an, meinte aber dann, wieder mit freundlichem
Ausdruck und indem er mich unter den Arm faßte, jetzt wollten wir zu
seiner Frau gehen, die sehr wünsche, mich wiederzusehen. Nichts konnte
friedlicher sein als die Stimmung, in der wir drei einige Minuten später um
den Teetisch der Kaiserin saßen, von der eine Atmosphäre der Güte und
der Behaglichkeit ausging, die alle Dissonanzen verscheuchte.
Einige Tage vor meiner Audienz bei Seiner Majestät hatte ich den
Generalobersten von Moltke aufgesucht. Er war aus dem Schloß in Hom-
burg v. d. H. in das Generalstabsgebäude übergesiedelt, den „roten
Kasten“ am Königsplatz, gegenüber der Siegessäule, das Haus, an das sich
so große Traditionen knüpfen, ein Haus, an dem ich heute nicht ohne
melancholische Erinnerungen an eine bessere, eine glückliche und stolze
Vergangenheit vorbeigehen kann. Ich fand Moltke im Bett. Er salı krank
aus, bleicher als sein Bettuch. Mit melancholischem Lächeln winkte er
mir zu: „Erinnern Sie sich noch, als wir zusammen um den Wasserturm am
Hippodrom ritten? Ich hatte doch recht, als ich den Posten nicht an-
nehmen wollte.‘ Im übrigen kam aus seinem Munde kein Wort weder der
persönlichen Rechtfertigung noch der Anklage gegen andere, sondern nur
Äußerungen seiner Besorgnisse für die Zukunft, für das Schicksal des Vater-
landes, seiner heißen Liebe für das Vaterland. Er gab denı lebhaften Wunsche
Ausdruck, daß ich an die Stelle von Bethmann treten möge, der zum
Steuermann des Reichsschiffes in diesem Weltsturm in keiner Weise ge-
eignet sei.
Als ich das Schlafzimmer Moltkes verließ, erwartete mich vor der Tür
seine Frau. Sie entstammte der dänisch-schwedischen Linie der Familie
Moltke. Sie war eine hübsche, begabte, ihrem Gatten treu ergebene Frau,
hatte sich aber leider mit spiritistischem und theosophischem Unfug ab-
gegeben und damit auch ihren Mann angesteckt, der olınehin zu Mysti-
zismus neigte. Eliza von Moltke, Lizzie, wie sie in der l’amilie genannt
wurde, zitterte vor Erregung über das Schicksal ihres Mannes, vor Ent-
rüstung über diejenigen, denen sie die Schuld an seinem Zusammenbruch
zuschob. Der Kaiser habe ihrem Gatten die Leitung der Operationen in dem
Augenblick entzogen, wo er im Begriffe stand, auf dem westlichen Kriegs-
Bei Moltke