Brief der
Fürstin
IVittgenstein
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hervorragenden Talente, die Sie zieren, und der nicht geringen Verdienste,
die Sie in Ihrem langen politischen Leben sich um Ihr Vaterland zu er-
werben wußten, hätten Uns die Huldigung in hohem Grade genehm ge-
macht, die Eure Durchlaucht zugleich mit Ihrer verehrten Frau Gemahlin
Uns vor Ihrer Abreise aus dieser Stadt persönlich zu erweisen gedachten,
sofern die Umstände es gestattet hätten. Auf jeden Fall nehmen Wir
dankbar den tiefgefühlten Wunsch entgegen, den Eure Durchlaucht am
Schlusse Ihres Briefes an die göttliche Vorsehung richtete, sie möge
gnädig dem Heiligen Stuhl beistehen. Wir Unsererseits erwidern diese
Wünsche in väterlicher Liebe für Ihre Nation, für Eure Durchlaucht und
für Ihre erlauchte Gemahlin und gewähren gleichfalls aus vollem Herzen
den von ihr erbetenen Apostolischen Segen.‘‘)
Der friedliche und edle Geist, in dem dieser Brief des Oberhauptes der
katholischen Kirche gehalten ist, sprach auch aus einem Schreiben, das die
Fürstin Leonille Wittgenstein bald nach meinem Eintreffen in Rom
an meine Schwiegermutter, Donna Laura Minghetti, gerichtet hatte. Die
Fürstin Leonille war damals schon 99 Jahre alt. Sie sollte beinahe ebenso
alt werden wie Graf Greppi. Sie starb erst 1918, 101 Jahre alt, in Ouchy
bei Lausanne. Dort hatte sie dem heiligen Josef eine Kapelle errichtet und
sich daneben eine Villa erbaut. Sie war die Schwiegermutter meines Amts-
vorgängers Chlodwig Hohenlohe. Ich war ihr in seinem Hause wührend
meiner Pariser Dienstzeit in der ersten Hälfte der achtziger Jahre oft
begegnet. Wir hatten viel und über vieles zusammen gesprochen. Sie war
mir eben so gütig gesinnt wie ihr Schwiegersohn. Russin von Geburt, eine
Prinzeß Bariatinsky, war sie als Gattin des am Rhein ansässigen Fürsten
Louis von Sayn-Wittgenstein unter dem Einfluß rheinischer Kirchenglocken
und rheinischer Frömmigkeit zur katholischen Kirche übergetreten und
eine sehr treue Katholikin geworden. Sie schrieb an Donna Laura: „Chere
et tr&s charmante Donna Laura, Bonne annee, annee r¶trice! Apr&s
celle-ci effroyable qui finit noy&e dans le sang et les torrents de larmes! Je
grille de vous dire un mot tout petit, mais tout brülant du sentiment qui
Yinspire. Je vous le confie afın que vous le transmettiez ä votre illustre et
tres aim& gendre le Prince de Bülow. Au milieu du chaos qui bouleverse le
monde et creuse des abimes entre les peuples, la reapparition du Prince est un
coup de gräce de la Providence et le signe Evident de sa predestination a
l’accomplissement, du salut de l’humanite, de sa dignite, de son honneur, et
de son Equilibre. Je prie Dieu, seul juste, bon et tout puissant de presider
aux inspirations du Prince de l’assister et de benir ses eflorts. Je vous
quitte sur cette pens&e et vous embrasse aussi tendrement que je vous aime.““
In traurigem Gegensatz zu dieser großzügigen Beurteilung der Weltlage
stand die Kleinlichkeit der Berliner politischen Leitung. Ein trübseliges