286 DER INNERE ZUSAMMENBRUCH
Berg den Monarchen beraten, so wäre wahrscheinlich das Allerschlimmste
vermieden worden. Ich möchte aber auch an dieser Stelle keinen Zweifel
darüber aufkommen lassen, daß ich ein beherzter Anhänger des parlamen-
tarischen Systeıns bin und bleibe. Was ich jedoch beklage und worin ich
die eigentliche Gefahr erblicke, ist der revolutionäre Charakter, unter dem
sich die Einführung vollzogen hat. Morgen wird nun der neue Reichskanzler
von der vollzogenen Tatsache, daß wir an Wilson ein Friedensangebot ge-
richtet haben, dem deutschen Volke und der Welt voraussichtlich Kenntnis
geben, und morgen abend wird sich auf das deutsche Volk die schwere dunkle
Wolke nationaler Trauer senken. Hier und dort, wo man das Ende mit
Schrecken dem Schrecken ohne Ende vorzog, mag eine vorübergehende
Entspannung eintreten. Aber sehr bald wird der Schrei nach den Schuldigen
ertönen. Und die wahre Gefahr droht erst, wenn die Tapferen aus den
Schützengräben in die Heimat zurückfluten und nach Wohnung, Arbeit und
Brot suchen. Auf diesen Zeitpunkt müssen schon jetzt alle Besonnenen ihr
Augenmerk richten, um den inneren Zusammenbruch zu verhüten. Vor
dem Mut des Prinzen Max von Baden verbeuge ich mich, nur muß er sich
von nervösen Beratern freimachen, die, wie Konrad Haußmann, rot wie
eine reilce Tomate, durch die Wilhelmstraße und durch die Wandeclhalle des
Reichstags rasen und toben. Ohnehin glaube ich nicht an eine lange
Regierung des Prinzen Max. Aber ich erwarte in voller Erkenntnis der
gegenwärtigen und kommenden Gefahren, daß sich das neue Deutschland
in Jahrzehnte langer Arbeit zu neuer Kraft und Größe entfalten wird. Viel
hängt von den deutschen Friedensunterhändlern ab. Ich denke dabei an
das Frankreich von 1814 und 1815 und an die Ergebnisse des Wiener
Kongresses. Aber komme schließlich, was mag: Mehr als vier Jahre haben
wir unsere Festung gegen alle Anstürme und gegen erdrückende Übermacht
tapfer und ehrenvoll verteidigt — Si fractus illabatur orbis, impavidum
ferient ruinae. In namenlosem patriotischem Schmerz bin ich in treuer
Gesinnung Euer Durchlaucht ergebener Heckscher.“
Ich habe seit dem Tode meiner einzigen Schwester, die, ein kleiner Engel,
im Januar 1870, kaum zwölf Jahre alt, von dem himmlischen Gärtocr in
sein Paradies verpflanzt wurde, und vor dem Heimgang meiner über alles
geliebten Frau keine Träne vergossen. Als ich den Brief des Abgeordneten
Heckscher zu Ende gelesen hatte, wurde ich von einem Weinkrampf be-
fallen. Es war nicht nur die Gewißheit unserer Niederlage, die mich
erschütterte, die bevorstehende Kapitulation nach vierjährigem helden-
mütigem Kampf, nach solchen Leistungen der tapfersten, der schönsten
Armee der Welt, das Erliegen der Armee von Fehrbellin und Leuthen, von
Leipzig und Waterloo, von Sadowa und Sedan. Es war noch mehr die blitz-
schnell in mir aufsteigende Erkenntnis, daß der Tag gekommen sei, wo die