EIN GROSSDEUTSCHER 75
die große Lehrmeisterin, die rückwärts gerichtete Prophetin. Er gab mir
nicht nur die Gedichte, sondern auch die Romane von Goethe zu lesen. Er
lobte meinen Entschluß, den ersten Teil des ‚‚Faust‘‘ auswendig zu lernen.
Ich hatte diese Absicht ausgeführt, als ich das Pädagogium verließ. Ich
könnte noch heute den „Faust“ aufsagen und habe vor einigen Jahren die
Wette gewonnen, alle diejenigen Verse des „Faust“ aus dem Stegreif zu
zitieren, in denen ein bestimmtes Wort (ich glaube es war das Wort
„springen‘“) gebraucht wird. Vor allem hat Daniel in mir den Patriotismus
gefördert, die Flamme, die in ihm selbst brannte, die unbegrenzte Liebe zu
deutscher Art, deutscher Sprache, deutscher Dichtkunst und Philosophie,
deutschem Land und Volk. Der dritte Teil seines Handbuchs der deutschen
Geographie, der sich mit Deutschland beschäftigt, ist für mich das geworden,
was der Franzose „un livre de chevet“ nennt, d. h. ein Buch, in das man
immer wieder von Zeit zu Zeit blickt. Seine Schilderung von deutschem
Land, von deutschen Tälern und Höhen, Wäldern und Flüssen, von deut-
schen Städten in Nord und Süd ist mir in Fleisch und Blut übergegangen.
In dieser Beziehung sehe ich Deutschland mit den Augen meines alten
Lehrers an.
Politisch dachte er anders, als ich durch den Gang der Ereignisse und
unter dem Einfluß von Bismarck denken sollte. Er war großdeutsch. Öster-
reich war ihm, der aus einem thüringischen Kleinstaat stammte, lieber als
Preußen. Das Jahr 1866 schmerzte ihn in tiefster Seele. Selbst nach Sedan
und Versailles konnte er das Ausscheiden von Österreich nicht verwinden.
Also ein echter Deutscher, der in den Sternen sucht, was vor seinen Füßen
liegt. Daniel wurde von seinen Gegnern — und wer hätte nicht Gegner? —
als Kryptokatholik verdächtigt. Er soll nicht lange vor seinem am 13. Sep-
tember 1871 in Leipzig erfolgten Tode zur katholischen Kirche übergetreten
sein. Ich halte dies Gerücht nicht für begründet. Aber allerdings war
Hermann Adalbert Daniel eine irenische Natur. Er hatte Verständnis für
die großen und schönen Seiten der katholischen Kirche und hielt es mit dem
Spruch: In necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas. Auch
beim Unterricht in der Klasse beschäftigte sich Daniel gern mit mir. Er ließ
eines Tages eine Redeübung abhalten. Die Schüler mußten nacheinander
das Katheder besteigen und dort über ein Thema sprechen, das ihnen im
Augenblick gegeben wurde. Ich sprach dreist und gottesfürchtig, wie ich
mein ganzes Leben immer gesprochen habe, in meinen verschiedenen
Examen, wenn ich Vortrag bei meinen Vorgesetzten hatte, später im
Ministerkonseil, beim Immediatvortrag, im Reichstag und im Landtag. Als
ich vom Katheder herunterkletterte, sagte Daniel lächelnd zu mir: „Sie
sind ein gescheites Kerlchen. Sie werden noch von sich reden machen.“
Dies Lob, statt mich zu erfreuen und mit Stolz zu erfüllen, setzte mich in