Bismarck
und der
Liberalismus
80 DAS CRÖLLWITZER FREMDENBUCH
der positiven Union. Mehr Pietist als orthodox, war er mit Daniel befreun-
det. Direktor Kramer, der sich zu Heinrich Leo hielt, leitete das Päd-
agogium im streng konservativen und streng kirchlichen Geiste. Als
Zeitungslektüre war uns nur die „Kreuzzeitung‘ erlaubt. Aber ich glaube,
auch wenn uns Schülern die Auswahl freigegeben worden wäre, würden wir
uns für das Blatt erklärt haben, das an seiner Spitze das Eiserne Kreuz
trug mit der Umschrift: „Vorwärts mit Gott für König und Vaterland.“
Wir waren alle ganz rechts gesinnt. Ausdrücklich möchte ich betonen, daß
auf dem Pädchen zwischen Adligen und Bürgerlichen keinerlei Gegensatz
bestand. Wir fühlten uns alle gleich.
Bei einem Ausflug der Prima nach Giebichenstein, dem festen Schloß der
fränkischen Kaiser, wo Herzog Ernst von Schwaben und Ludwig der
Springer gefangensallen, schrieben wir im Frühjahr 1866 in das Fremden-
buch der dem Giebichenstein gegenüberliegenden Bergschenke Cröllwitz die
Verse ein:
Nur Roß, nur Reisige
Sichern die steile Höh’,
Wo Fürsten stehn.
Nicht Demokraten, Juden und Freischärler,
Denn wer auf die getraut,
Der hat auf Dreck gebaut.
Liberale Blätter entdeckten die Freveltat und verlangten mit Pathos
und starker Entrüstung die strenge Bestrafung der „Junkerbrut“, die sich
solcher Tat verwogen habe und mit derartiger Frechheit ‚‚das Volk“ ver-
höhne. Auch dem Direktor Kramer ging diese Entgleisung zu weit. Er er-
teilte der Klasse einen scharfen Verweis unter Hinweis darauf, daß, von
allem anderen abgesehen, die Travestierung der Nationalhymne geschmack-
los und unstatthaft gewesen sei. Keine Zurechtweisung konnte gerecht-
fertigter sein. Nicht um nach so langer Zeit meine und meiner Schul-
kameraden Ungezogenheit zu verteidigen, sondern zur Charakterisierung
der damals in konservativen Kreisen herrschenden Mentalität will ich daran
erinnern, daß im Schicksalsjahr 1866 in Deutschland die Verkennung und
Unterschätzung von Bismarck ebenso allgemein war und ebenso groß wie
die Überschätzung der demokratischen „Kammerhelden‘, um einen Bis-
marckschen Ausdruck zu gebrauchen. Wer sich heute die Mühe gibt, in
voller Unparteilichkeit, ja mit Mitgefühl für den Besiegten und Blamierten
die Kammer-Reden von Schulze-Delitzsch und Waldeck, von Hoverbeck und
Virchow, von Franz Duncker und Sybel zu lesen, wird erstaunt sein, daß
solche Verbindung von Weltfremdheit und Selbstüberschätzung, von Bana-
lität und Pedanterie Eindruck machen konnte. Wie war es möglich, daß ein