Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

DIE KONFLIKTZEIT Bl 
derartiges Phrasendreschen, solche Simpeleien wirken konnten, und das 
gegenüber den Bismarckschen Reden, in denen alles Kraft und Geist, wo 
alles tief und genial war? Ich glaube, daß zur Zeit unter hunderttausend 
Deutschen nicht einer mehr weiß, wer Grabow, wer Bockum-Dolffs war, in 
der Konfliktzeit hochgefeierte „Volksmänner“. Freilich ist es ein gewöhn- 
licher Fehler deutscher Intellektueller, sich neuen Richtungen und Strö- 
mungen zunächst mit vorgefaßter Meinung, ungerecht, bisweilen blind zu 
widersetzen. Hat sich die neue Richtung aber durchgesetzt, so ziehen die- 
selben Intellektuellen mit Korybantenlärm, in wilder Begeisterung, mit 
Musik und Tanz vor der Göttin Kybele her. Den Rekord gegenüber Bis- 
marck schlug in dieser Beziehung der Historiker Heinrich Sybel. Er hatte 
während der Konfliktzeit in der vordersten Reihe der Gegner des Minister- 
präsidenten gestanden, den er im Abgeordnetenhaus zügellos angriff. Nach- 
deın Bismarck sich durchgesetzt hatte, schrieb Sybel in sieben Bänden ein 
Buch über die Gründung des Deutschen Reiches, in dem er dem Minister- 
präsidenten ebenso ungestüm huldigte, wie er ihn früher geschmäht hatte. 
Das Sybelsche Werk ist mittelmäßig. Als es Fürst Bismarck, dem es der 
Verfasser mit einer pomphaften Ansprache überreicht hatte, durchblätterte, 
hörte ich ihn sagen: „Wenn ich die Wahl habe, dies öde Buch von A bis Z 
durchzulesen oder mich von seinem Verfasser noch einmal beschimpfen zu 
lassen, so ziehe ich das letztere vor.‘ Fürst Bismarck lobte bei diesem An- 
laß Macaulay, Carlyle und Motley. 
Bei retrospektiver und abgeklärter Betrachtung halte ich es für ein Un- 
glück, daß der deutsche Liberalismus, also in gewisser Hinsicht die deutsche 
Intelligenz, Bismarck in der Konfliktzeit gar so einfältige Opposition ge- 
macht hat. Das hatte zur Folge, daß der größte deutsche Staatsmann den 
deutschen Liberalismus und seine Vertreter bis zuletzt innerlich allzu 
niedrig eingeschätzt hat. Die Blößen, die sich, wie schon 1848/49, so in ver- 
stärktem Maße in der ersten Hälfte der sechziger Jahre der Liberalismus 
gab, führten dahin, daß die Liberalen von einer großen Anzahl Deutscher 
als hoffnungslos unfähig und unbrauchbar angesehen wurden. Auf der einen 
Seite verhöhnt von dem geistreichen Ferdinand Lassalle, auf der anderen 
verachtet von dem gewaltigen Bismarck, verlor der deutsche Liberalismus 
und mit ihm ein gutes Stück deutscher Bildung, der Professor, der Jurist, 
zu sehr an Prestige. Der Gerechtigkeit halber muß ich hinzufügen, daß die 
Liberalen und Demokraten in der Konfliktzeit freilich jämmerlich ab- 
schnitten. Ein kleines Beispiel, das mir, als ich schon Minister war, ge- 
legentlich ein alter Parlamentarier erzählte: Infolge von Überarbeitung 
körperlich angegriffen, machte Bismarck während einer Debatte im Ab- 
geordnetenhause einen abgespannten und müden Eindruck. Einer der 
Führer der Opposition benutzte dies, um in hämischen Worten der Meinung 
6 Bülow IV
	        
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