VATER UND SOHN 83
christlichem Boden. Er war ein strenggläubiger, gleichzeitig ein warm-
herziger Geistlicher, der bald zu seinen Konfirmanden in ein vertrauens-
volles Verhältnis trat, sich ihre Achtung und Liebe erwarb. Der Gedanke,
an den Tisch des Herrn zu treten und den Leib und das Blut Christi zu
empfangen, entweder zum Heil oder zur Verdammnis, beherrschte mich
ganz in der Zeit vor meiner Einsegnung. Mit voller Überzeugung und In-
brunst wiederholte ich das altväterliche Gebet, das so viele meiner Vor-
fahren, von väterlicher wie von mütterlicher Seite, vor mir gebetet hatten:
„Dein heiliger Leib, o Herr Jesu Christe, mein Herr und Gott, gedeihe mir
zum ewigen Leben und dein teures Blut zur Vergebung aller meiner Sünden.
Laß mir dein heiliges Sakrament nicht zum Gerichte, sondern zur Seligkeit
und wahren Freude gereichen und mache mich armen Sünder würdig, daß
ich in deiner letzten Zukunft, am Tage des letzten Gerichts, zur Rechten
der ewigen Herrlichkeit fröhlich stehen möge. Amen.“ Ich habe, eingedenk
der Mahnung des großen Apostels (I. Kor. 11, 27—29), so oft ich zum
heiligen Abendmahl ging, dies Gebet wiederholt und werde es, so Gott
will, in meiner Sterbestunde beten dürfen. Am Tage vor unserer Konfir-
mation mußten wir bei Pastor Seiler beichten. Er entließ mich mit
ernsten Mahnungen, da, wie er sagte, in mir neben frommen und guten
auch gefährliche und böse Anlagen und Triebe schlummerten. Mehr noch
als andere müsse ich mich vor Versuchungen hüten, am Gebet festhalten,
vor allem Selbstzucht üben. Als Konfirmationsspruch gab er mir den
ersten Vers des ersten Psalms: „Wohl dem, der nicht wandelt im Rate
der Gottlosen, noch tritt auf den Weg der Sünder, noch sitzet, wo die
Spötter sitzen.“
Mit meinem Vater hatte ich am Tage nach meiner Konfirmation, wäh-
rend der Rückfahrt über Berlin nach Neustrelitz, eine peinliche Ausein-
andersetzung. Er fand mich in meinem religiösen Empfinden zu exaltiert.
Meine Mutter hatte mehr Verständnis für meine Stimmung, wagte aber
nicht, dem Vater entgegenzutreten. Ich selbst widersprach um so gereizter.
Ich sagte schließlich meinem Vater, ich hätte die Empfindung, daß man
mir nach einem Sonnenbade einen Eimer eiskalten Wassers über den Leib
gösse.
Mein weiser Vater ließ die Diskussion fallen. Erst in Neustrelitz kam
er auf das Thema zurück. Er lobte meine Empfänglichkeit für Gottes Wort
und Sakrament, aber er fügte hinzu, daß es nicht auf momentane psychische
Erregung ankomme, sondern auf einen stetigen frommen Lebenswandel. Er
gedachte des Hegelschen Wortes von der Pendelschwingung: ein allzu
stürmischer Pendelschlag in der einen, wenn auch noch so guten Richtung
berge in sich die Gefahr einer ebenso heftigen Pendelschwingung in der
entgegengesetzten Richtung. Also auch hier weder Lauheit, Seichtheit,
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