GNADE VOR RECHT 103
mecklenburgischer Aussprache sagte: „Aber Frau Baronin, bedenken wir
doch die geoogrooafische Lage.“
Von dieser verständigen Auffassung ging mein Vater aus, als er dem
Großherzog klarmachte, daß er sich auf die preußische Seite stellen müsse.
Er hat dadurch Strelitz gerettet, aber sich, wie Fürsten manchmal sind,
nicht die Dankbarkeit des blinden Großherzogs erworben. Das Verhältnis
zwischen beiden wurde allmählich unerquicklich. Mein Vater nahm den ihm
von dem Großherzog von Schwerin angetragenen Posten des mecklen-
burgischen Gesandten in Berlin mit um so besserem Gewissen an, als ihn
Bismarck wissen ließ, er würde ihm dort als Vertreter von Mecklenburg be-
sonders erwünscht sein. Als solcher hat, wie ich vorgreifend schon hier er-
wähnen will, mein Vater vier Jahre später Strelitz noch einmal gerettet,
beim Beginn des Deutsch-Französischen Krieges. Der blinde Großherzog
hatte meinen Vater nach dessen Versetzung von Strelitz durch einen Han-
noveraner ersetzt, einen Baron von Hammerstein, einen ausgesprochenen
Welfen, der andere Welfen nach sich zog. Im Juli 1870 wurde das Treiben
dieser Herren so verdächtig, daß einen Augenblick der Einmarsch preu-
ßischer Truppen in Strelitz und damit wohl die Einverleibung von Strelitz
in Preußen drohte. Mein Vater suchte den Bundeskanzler auf, der ihn trotz
der ungeheuren Geschäftslast, die in diesen Tagen auf ihm ruhte, mit alter
Freundschaft empfing und ihm sagte: „In der großen Seestadt Strelitz
scheinen seit Ihrem Fortgang üble Dinge passiert zu sein. Wir könnten
eigentlich aus dem Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz einen preußischen
Kreis machen. Wir wollen aber noch einmal Gnade vor Recht ergehen
lassen: einmal wegen der Königin Luise und dann Ihretwegen, alter
Freund! Aber sorgen Sie dafür, daß der Saustall reingefegt wird.“ Mein
Vater schlug vor, den Erbgroßherzog, der die Vorurteile seiner Eltern gegen
Preußen in keiner Weise teile, Seiner Majestät dem König von Preußen zu
jeder beliebigen militärischen Verwendung zur Verfügung zu stellen, worauf
der Bundeskanzler gern einging. Der Erbgroßherzog hat denn auch den
Deutsch-Französischen Krieg im Hauptquartier des alten Kaisers mit-
gemacht und ist nach seiner 1904 erfolgten Thronbesteigung ein durchaus
reichstreuer Bundesfürst gewesen.
Nach Halle war, wie nach manchen anderen deutschen Städten, aus
Böhmen die Cholera eingeschleppt worden. Sie forderte auch hier zahl-
reiche Opfer. Wenn wir mit dem jungen Andre spazierenritten, begegneten
wir nicht selten Bekannten, von denen wir am nächsten Tage hörten, sie
seien der Cholera erlegen. Durch alle Straßen zogen Leichenzüge. Die
Franckeschen Stiftungen wurden von der Seuche verschont. Das wurde
einerseits darauf zurückgeführt, daß sie auf einer Anhöhe lagen und so den
Ausdünstungen und üblen Gerüchen der Stadt entzogen waren. Vor allem
Cholera
in Halle