Dresden
Elisabeth
Stockhausen
106 IM DEUTSCHEN FLORENZ
vom Tanzplatz auf die Granitfelsen, auf die schäumende und tosende Bode,
den blauen Brocken und die lachende Ebene hat, für einen der schönsten
Ausblicke in unserem Vaterland. Das Rauschen der Bode klang ihm wie das
Rauschen der Flügelräder der Cherubim, das der Prophet Hesekiel ver-
nahm, wie ein Getümmel des Herrn und ein Getöne des Allmächtigen.
Im Frühjahr 1867 folgten wir einer Einladung des lieben Onkels Wolf
Baudissin nach Dresden. Franz Liszt pflegte zu sagen, es komme für jeden
Menschen darauf an, seinen Rahmen zu finden: „Il faut que chacun trouve
son cadre.“ Im Sommer fand Wolf Baudissin seinen ,„cadre‘“ unter den
Eichen und Buchen von Rantzau, im Winter in Dresden. Das damalige
Dresden war noch das Dresden, das Herder als das deutsche Florenz
gerühmt, das der Wiener Publizist Franz Schuselka wegen der Bildung
und der Liebenswürdigkeit seiner Bewohner „die feine Salonstadt“
genannt hatte. Mein Onkel paßte durchaus in dieses Milieu. Ich traf bei
ihm seine Nichte Klothilde, die mit dem Freiherrn Bodo von Stockhausen
vermählt war, der nacheinander hannoverscher Gesandter in Paris und in
Wien, dann Oberhofmeister der Königin Marie von Hannover gewesen war.
Sie war eine schöne und geistvolle Frau, die mein Vater für die originellste
und bedeutendste unter seinen Kusinen zu erklären pflegte. Sie hat ein
Tagebuch publiziert, teils in deutscher, teils in französischer Sprache, das
manche feine Bemerkung und Beobachtung enthält. Ich zitiere daraus nur:
„Ein Franzose sagte mir einstens: Lorsqu’on voyage en Orient, iln’ya qu’un
moyen de se defaire de la vermine, il faut &tre sale au point de la degoüter.
Diese längst vergessenen W orte fielen mir plötzlich ein, alsich mich vergebens
abquälte, einen Besuch zu unterhalten und ihn ins Sprechen zu bringen. Es
mag eben auch nur ein Mittel geben, um langweilige Menschen zu entfernen,
das ist, noch viel langweiliger zu sein als sie.‘ Marie von Ebner-Eschenbach
hat tiefere Aphorismen geschrieben. Aber mit Mechtilde Lichnowsky, der
Verfasserin einiger „ungereimter“ Dramen, nimmt meine Tante es auf.
Am zweiten Tag meines Besuches bei meinem Onkel Baudissin trat ein
ungewöhnlich schönes Mädchen in den Salon meines Oheims. Ich starrte sie
an wie die armen Hirten des Tals das Mädchen aus der Fremde. Ich brauche
mich dessen auch nach so vielen Jahren und Jahrzehnten nicht zu schämen,
denn es war die Großnichte meines Onkels, meine Kusine Elisabeth
Stockhausen, die nachmalige Baronin Herzogenberg, von der in der Ge-
denkrede, die er ihr 1892 nach ihrem Tode hielt, der strenge Rechtslehrer
Adolph Wach sagte: „Ich sehe sie in ihrem lichten Goldhaar, mit dem
heiteren, unendlich lieblichen und göttlich begeisterten Ausdruck, der hohen
Anmut der Bewegung, ein Abbild ihres vollendet schönen Inneren: wohl
ähnlich, wie die großen Meister eine Heilige der Kunst oder die jungfräu-
lichen Engel bildeten, die auf uns herniederlächeln. Ihr Wesen war eine