PUPPEL 107
reine Harmonie, der Wohllaut reichster Töne, der Zusammenklang edelster
Seelenkräfte. Das Schöne, diese sinnliche Offenbarung des Göttlichen, war
ihr eigen. Was sie war, lebte, sprach und sann, trug diesen Stempel höchsten
Seelenadels. So war sie aus Gottes Hand hervorgegangen: eine geborene,
nicht eine gelernte Jüngerin der Kunst. Zur Priesterin ist sie herangereift.“
Als ich, damals siebzehnjährig, Elisabeth Stockhausen zum erstenmal sah,
stand ich so sehr unter ihrem Eindruck, daß ich wochenlang von ihr
träumte, wovon sie natürlich nie etwas merkte noch ahnte. Sie hat ein Jahr
später den tüchtigen Musiker Heinrich Freiherrn von Herzogenberg ge-
heiratet, unter den Treuen des Meisters Johannes Brahms den Getreuesten.
Max Kalbeck hat den für den größeren Meister von Bayreuth ungerechten,
aber im übrigen von edler Gesinnung getragenen Briefwechsel von Heinrich
und Elisabeth Herzogenberg mit Johannes Brahms veröffentlicht. Elisabeth
Herzogenberg starb am 7. Juni 1892 nach monatelanger Leidenszeit in San
Remo. Dort ist sie am Gestade des blauen Mittelmeers unter Lorbeer,
Palmen und Zypressen auf einsamem Friedhof begraben worden. Adolf
Hildebrandt schmückte ihre Grabstätte mit einem Reliefbild aus Marmor,
das eine vor der Orgel sitzende Frauengestalt sehen läßt. Das der Santa
Cecilia Donatellos nachgebildete Antlitz, das die Züge von Elisabeth Her-
zogenberg trägt, lauscht dem Klang des Instruments.
Im Herbst 1867 legte ich mein Abiturienten-Examen ab. Ich halte die
Maturitätsprüfung für die schwierigste aller Prüfungen. Das Assessor-
Examen ist mir Gott sei Dank erspart worden. Die Aufnahmeprüfungen in
Frankfurt, Neustrelitz und Halle, später das Referendar-Examen und die
große diplomatische Prüfung erscheinen mir neben dem Abiturienten-
Examen wie Spielereien. Wir wurden in Halle im Beisein eines aus Magde-
burg eingetroffenen Schulrats durch den Direktor Kramer und den In-
spector adjunctus Daniel, die Professoren Dryander und Voigt auf Herz und
Nieren geprüft. Die uns zur Übersetzung ins Lateinische und Griechische
diktierten Extemporalien und besonders der deutsche Aufsatz mußten
unter Klausur fertiggestellt werden. Nach der Morgenandacht sollte um
neun Uhr mit dem deutschen Aufsatz begonnen werden. Groß war die
Spannung. Ich sah manche ängstliche und bleiche Gesichter um mich. Ich
selbst war in bester Stimmung. Da näherte sich mir der längste und älteste
der Examinanden. Er hieß Puppel. Er war schon zweimal im Examen durch-
gefallen. Wenn er wieder durchfiel, durfte er sich nicht zum viertenmal
melden. Damit war ihm die Verwaltungslaufbahn verschlossen, für die ihn
sein Vater bestimmt hatte. Er sagte leise zu mir: „Der deutsche Aufsatz
ist meine schwache Seite. Wenn er mir wieder mißlingt, falle ich zum
drittenmal durch, und mein Vater schlägt mich tot. Hilf mir, ich bitte dich!
Dir fließt es leicht aus der Feder. Du kannst in der uns gegebenen Frist
Abiturium