Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

108 BEINAHE RELEGIERT 
ganz gut zwei Aufsätze machen, einen für dich und einen für mich. Rette 
mich!“ Ich war gerührt. Ich sagte ihm, er möge sich neben mich setzen. 
Das uns für den Aufsatz gegebene Thema war nicht ganz leicht zu be- 
antworten. Puppel erbleichte und sah mich hilflos an, als es uns verkündet 
wurde. Wir sollten gründlich und erschöpfend, dabei doch knapp und 
präzis, die Ähnlichkeit und die Unterschiede zwischen der Ilias und dem 
Nibelungenliede klarlegen. So rasch wie möglich, mit der affenartigen Ge- 
schwindigkeit, die 1866 die Wiener Presse den Preußen vorgeworfen hatte, 
entwarf ich einen Aufsatz für meinen Kameraden Puppel. Dann wandte ich 
mich mit ruhigem Gewissen der eigenen Arbeit zu. Dem auf dem Katheder 
sitzenden Lehrer, der uns während der Klausurarbeit zu überwachen hatte, 
war der Gedankenaustausch zwischen mir und Puppel leider nicht ent- 
gangen. Er stieß auf. Puppel herab wie der Falke auf die Taube. Er riß ihm 
mein Konzept aus der Hand, hielt es triumphierend in die Höhe und schrie: 
„Das wird sofort höherenorts gemeldet!“ Dann verschwand er. Der 
Schrecken der Klasse war groß, noch größer ihre Spannung, wie es enden 
würde. Nach einer guten Stunde traten die Lehrer in das Zimmer: an der 
Spitze der Schulrat, dann Direktor Kramer, der Inspector adjunctus Daniel, 
vier andere Professoren, alle secundum ordinem. Der Schulrat begann mit 
strenger Stimme: Ein unerhörter Vorfall habe sich ereignet. Zwei Schüler 
hätten versucht, ihre Lehrer zu täuschen. Gott sei Dank sei der Frevel 
rechtzeitig aufgedeckt worden. Der Schüler Puppel werde von der Prüfung 
ausgeschlossen und gleichzeitig relegiert. Den Schüler Bülow hätte eigent- 
lich die gleiche Strafe treffen müssen. Nur im Hinblick darauf, daß er nach 
der Versicherung des Direktors und des Inspektors ein gutartiger Jüngling 
sei, der aus Mitleid seinem Nachbarn habe helfen wollen, und auch mit 
Rücksicht auf seine nach der Versicherung seiner Lehrer nicht gewöhnliche 
Begabung solle es bei ihm sein Bewenden mit einer zwölfstündigen Karzer- 
strafe und einem Vermerk im Maturitätszeugnis haben. Nachdem auch der 
Direktor Kramer seinem tiefen Bedauern über den Vorfall bewegten Aus- 
druck gegeben hatte, entfernten sich die Herren Lehrer wieder in derselben 
Reihenfolge, in der sie gekommen waren. Mein lieber Daniel sagte mir im 
Vorbeigehen, indem er mir die Hand auf die Schulter legte: „Halten Sie 
den Kopf oben! Sie sind eine elastische Natur und werden im Leben noch 
über ganz andere Schwierigkeiten wegkommen. Schreiben Sie jetzt einen 
recht guten deutschen Aufsatz. Aber künftig beherzigen Sie besser den 
Spruch, den ich Ihnen zu Ihrer Konfirmation in die ‚Lyra Messianica‘ ge- 
schrieben habe: ‚So sehet nun zu, wie ihr vorsichtiglich wandelt, nicht als 
die Unweisen, sondern als die Weisen.‘“ (Epheser 5, 15.) Als auch Daniel, 
den anderen folgend, das Prüfungszimmer verlassen hatte, kam Puppel auf 
mich zu. „Das ist eine Gemeinheit‘, sprach er zu mir, „daß ich relegiert
	        
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