AUFSATZ MIT ZITATEN 109
werde und du nicht, denn du bist ebenso schuldig wie ich.“ O Puppel, ich
weiß nichts von deinen späteren Lebensschicksalen. Ich vermute, daß du
trotz dem anfänglichen Widerstreben deines Herrn Vaters die militärische
Laufbahn eingeschlagen haben wirst. Vielleicht bist du den Heldentod ge-
storben. Hast du den Krieg überstanden, wirst du, wie ich fürchte, an der
Majorsecke gescheitert sein. Ich glaube nicht, daß du es bis zum General
gebracht haben wirst. Was ausdirgeworden sein mag,ich habe in meinem auch
späteren Leben oft an dich zurückgedacht. Wenn Fraktionen, die mich
ihrer Treue versichert hatten, solange sie etwas von mir wollten, mich,
wenn sie saturiert waren, im Stiche ließen, wenn Politiker, die nicht höher
als auf mich schworen, von mir abschwenkten, sobald Eigennutz oder Feig-
heit dazu rieten, wenn Untergebene, die vor mir gekrochen waren, mich
bei der ersten ihnen günstig erscheinenden Gelegenheit verrieten,o Puppel,
dann habe ich an dich gedacht. Du warst nicht eine Einzelerscheinung,
lieber Puppel, du warst ein Typus.
Als wir mit Ausnahme des unglücklichen Puppel unsere Plätze im Prü-
fungszimmer wieder eingenommen hatten, wurde uns ein neues Thema für
den deutschen Aufsatz gegeben. Es lautete: „Unsere mittelalterlichen
Volksepen, ein großes und herrliches Lied von Treue.“ Ich gedachte der
Mahnung, die mir ein Jahrzehnt früher mein Vater auf der Landstraße er-
teilt hatte, die von Frankfurt nach Mainz führt: „Keep up your nerves,
Sir!““ Ich hatte meine Arbeit früher als die anderen fertiggestellt, die, ein
seltener Fall, die Zensur I erhielt.
Der Inspector adjunctus des Pädagogiums zu Halle, Studienrat
Faltin, hat die Liebenswürdigkeit gehabt, mir als dem ältesten ehemaligen
Zögling des Pädagogiums zu meinem 75. Geburtstag eine Abschrift
meines damaligen Aufsatzes zu übersenden. Man wird es mir hoffentlich
nicht als Eitelkeit auslegen, daß ich, als ich mein damaliges Opus
wieder vor Augen hatte, es gar nicht so übel fand. Freilich ersah ich
daraus, wie recht Goethe hat, zu sagen: daß keine Zeit die einmal ge-
prägten, sich lebend entwickelnden Formen zerstückele. Man hat meiner
Konversation, man hat den vielen Reden, die ich in meinem späteren Leben
gehalten habe, insbesondere den Reden, die ich aus dem Stegreif hielt, nicht
selten einen zu reichlichen Zusatz von Zitaten vorgeworfen. Schon mein
Examenaufsatz vom 24. Juli 1867 beginnt mit einem Zitat von Barthold
Niebuhr (die Deutschen seien die Griechen der Neuzeit) und schließt mit
einem Worte von Schiller, das freilich nahelag: Die Treue, sie ist doch kein
leerer Wahn. Am nächsten Tage mußte ich meine Karzerstrafe abbüßen.
Da Bücher verboten waren, verbrachte ich meine Zeit damit, den „Faust“
aufzusagen, den ich, dem Rat meines verehrten Lehrers Daniel folgend, als
Primaner nach und nach meinem Gedächtnis eingeprägt hatte.
„Unsere
mittelalter-
lichen Volks-
epen“