Cröllwitz und
Giebichenstein
112 AN DER SAALE HELLEM STRANDE
Ich hatte bei der Trennung vom Pädchen die Empfindung, die mich er-
füllte, wenn ich, aus der Elbe kommend, hinter Cuxhaven bei der roten
Tonne das offene Meer vor mir erblickte. Zu neuen Ufern lockt ein neuer
Tag. Aber ich war doch bewegt, als die Abiturienten sangen: „So leb denn
wohl, du stilles Haus, wir ziehn betrübt von dir hinaus.“ Halle war keine
schöne Stadt. Die Magdeburger und Leipziger, vor allem die feinen
Dresdner, witzelten, daß man Halle eher röche als sähe. Das zielte auf die
mit Salinendampf und Braunkohlendunst erfüllte Atmosphäre der Stadt,
deren abschüssige Straßen mit ihrem schlechten Pflaster und sprichwörtlich
gewordenen Schmutz damals sehr verrufen waren. Aber nicht umsonst hatte
mir Daniel mit Thucydides gepredigt, daß der Mensch das Land habe und
nicht das Land den Menschen. An die Menschen in Halle, vor allem an
meinen lieben Professor Daniel, hatte ich mich mit ganzem Herzen an-
geschlossen. Auch die Umgebung der Stadt bot manchen Reiz. Und in
weiter Ferne winkten die Burgen, die stolz und kühn an der Saale hellem
Strande stehn und wohin ich oft gewandert war: die zwei Türme von Saal-
eck und hoch auf steiler Wand die Rudelsburg, das freundliche Kösen,
Merseburg mit seinen stolzen Erinnerungen an Kaiser Otto den Großen,
Naumburg, vor das die Hussiten zogen, die ganze Gegend war mir ans Herz
gewachsen.
Ich bin viel auf der Saale gefahren. Unsere Eltern hatten uns Emp-
fehlungen an eine Reihe angesehener Familien in Halle verschafft, bei denen
wir freundliche Aufnahme fanden. Eine distinguierte Dame aus diesen
Kreisen schloß mich in ihr Herz. Im Gegensatz zu meinem Bruder Adolf,
der eine spröde Natur war, ließ ich mir ihre Freundlichkeit wohlgefallen.
An mehr als einem schönen Sommertag durfte ich sie nach Cröllwitz oder
Giebichenstein, zur Raben- oder zur Nachtigallen-Insel führen. Sie war eine
üppige Blondine, zwischen dreißig und vierzig Jahren. Sie zu rudern, war
nicht ganz leicht. Auch hier galt das Wort des Hesiod, daß steil der Weg
sei, der zum Gipfel hinaufführe. Sie hatte ein gutes, ja ein zärtliches Herz
und kargte nicht mit dem Lohn der Minne, wenn wir nach der Wasserfahrt
im freundlichen Schatten der die Saale umsäumenden Gebüsche oder im
kühlen Zimmer eines ländlichen Wirtshauses der Ruhe pflegten. Als ich
mich nach glücklich bestandenem Abiturienten-Examen bei ihr und ihrem
Gatten verabschiedete, überreichte er mir ein Buch: Quinti Horatii Flacci
Opera ad exemplar Londinense a Johanne Pine, Berolini, 1745, Sumtibus
Ambrosii Haude, Bibliop. Reg. et Acad. Scient. privil. Dabei sagte er zu
mir: „Mein junger Freund, meine liebe Frau hat mir Gutes über Sie gesagt.
Sie scheinen ein wißbegieriger, ein fleißiger, ein tüchtiger Jüngling zu sein.
Aber vergessen Sie über so lobenswerte Eigenschaften nicht, daß in des
Lebens Lenz auch die Lebensfreude zu ihrem Recht kommen muß.“ Er