Vevey
116 DIE SCHÖNE SPANIERIN
Baudissin, der sich in seiner Jugend mit der Tochter von Madame de Staß&l
verlobt hatte, die später den Herzog von Broglie heiratete. Die Verlobung
mit meinem Onkel wurde aufgelöst, weil beide Teile die Empfindung hatten,
nicht für einander zu passen. Noch lieber marschierten wir von Lausanne
in der Richtung nach Pully, Lutry, Cully, nach St. Saphorin, dessen Glocken
so schön und hell klingen.
Fast jede Woche besuchte ich Vevey, wo meine Tante, die Witwe
meines Großonkels, des Senators Martin Jenisch, im Hötel des Trois-Cou-
ronnes den Winter zu verleben pflegte. Sie hat denn auch viele Jahre später
der Stadt Vevey ein großes Legat hinterlassen, mit dessen Hilfe das Musee
Jenisch gegründet wurde. Es enthält wertvolle Gemälde, eine gute Biblio-
thek und interessante naturhistorische Sammlungen. Ich finde aber, meine
gute Tante hätte besser getan, entweder ihren Geburtsort, Lübeck, oder die
Heimatstadt ihres Mannes, Hamburg, zu bedenken. Im Hötel des Trois-
Couronnes war eine elegante, internationale Gesellschaft versammelt, dar-
unter viele schöne Frauen. Für die schönste galt, und mit Recht, eine
Spanierin, Frau von X., bei deren Anblick man unwillkürlich an das Ge-
dicht dachte, das Alfred de Musset seiner andalusischen Freundin widmete:
Vrai Dieu! Lorsque son cil petille
Sous la frange de ses reseaux,
Rien que pour toucher sa mantille,
De par tous les saints de Castille,
On se ferait rompre les os.
Ihr Gatte weilte in Paris. Als von ihr begünstigt galt ein junger
Grieche mit großen, schwarzen, melancholischen Augen. Im Hötel des
Trois-Couronnes wurde fast jeden Abend getanzt. Als ich mich wieder ein-
mal dort eingefunden hatte, bemerkte ich, daß der brünette Grieche sich
viel mit einer blonden Engländerin beschäftigte. Ich sah auch, daß die
schöne Spanierin diesen Flirt mit zornigen Blicken verfolgte. Da ich Frau
von X. wenig kannte, ihr auch nicht den Hof machte, ließ mich der Vor-
gang gleichgültig. Ich war daher erstaunt, als sie auf mich zukam und mich
aufforderte, einen Walzer mit ihr zu tanzen. Nachdem wir uns ein paarmal
um den großen Saal gedreht hatten, setzte sie sich mit mir auf eine der
Bänke und frug nach dem Gang meiner Studien, nach meiner Lektüre. Sie
examinierte mich lebhaft und nicht ohne Geist. Als ich J. J. Rousseau für
einen meiner Lieblingsschriftsteller und die „Nouvelle Heloise‘“ mit Feuer
für ein herrliches Buch erklärte, meinte sie lächelnd: „‚Le bosquet de Julie
n’est pas loin d’ici.‘“ Sie frug, ob ich bei ihr eine Tasse Tee trinken wolle,
ihr Wagen halte vor der Tür, und ihre Villa sei nicht weit entfernt. Es
ist klar, daß in diesem Augenblick der Versucher an mich herantrat in der