TRAGISCHER ZWISCHENFALL 117
Gestalt einer schönen Frau. Ich hätte standhaft bleiben sollen wie einst in
ähnlicher Lage der heilige Antonius und wie, sehr viel früher, der keusche
Joseph. Aber nicht jeder ist zum Heiligen ausersehen. Es ist schwer, ein
Heiliger zu werden, sonst würde es ja viel mehr Heilige geben.
Frau von X. war sehr schön, die Versuchung war sehr groß. Ich akzep-
tierte die liebenswürdige Einladung, ich akzeptierte sie sogar sehr gern.
Frau von X. nahm meinen Arm und ging auf die Tür zu. Der Hellene, der
uns seit einiger Zeit mit offenbarer Erregung beobachtete, näherte sich uns.
Ich hörte ihn flüstern: „De gräce! Accordez-moi un instant, Ecoutez moi!
Je ne vous ai pas trahie. Il s’agit d’une distraction, d’une plaisanterie.“
Sie antwortete nicht. Als wir vor der Hoteltür standen, forderte sie mich
auf, zuerst in den Wagen einzusteigen. Der Grieche stand neben ihr. Er
flüsterte: „Je vous supplie, ayez pitie de moi! Je vous jure: Si vous ne me
pardonnez pas, je me tuerai.“ Sie hatte inzwischen neben mir Platz ge-
nommen. Sie ließ die Fensterscheibe des Wagens herab, und jedes Wort
akzentuierend erwiderte sie: „Vous @tes bien trop läche pour vous tuer.
Cocher! Chez moi, et ventre ä terre!“
Als ich am nächsten Vormittag zu Fuß von der Villa nach Vevey zu-
rückkehrte, sah ich schon von weitem eine Anzahl Menschen auf dem Kai
vor dem Hötel des Trois-Couronnes, die lebhaft gestikulierend mit Fern-
rohren und Operngläsern auf den See blickten. Als ich näher kam, hörte ich,
daß ein Boot ohne Insassen und ohne Ruder auf den Wellen treibe. Am
Abend vorher habe der junge Grieche in später Stunde ein Boot gemietet
und sei allein auf den See hinausgefahren. Er sei nicht zurückgekehrt.
Eine Stunde später verbreitete sich die Nachricht, daß die Leiche des
Armen bei St. Saphorin ans Ufer getrieben worden sei. Er hatte den Tod
des Leander gefunden, aber unglücklicher als dieser, denn seine Hero
weinte nicht um ihn.
Während das traurige Ereignis nach allen Seiten erörtert wurde, näherte
sich meine schöne Freundin. Ich ging ihr entgegen, um sie schonend auf den
Trauerfall vorzubereiten. Sie verlor nicht eine Minute ihre Haltung, die
Ruhe einer Marmorstatue, eine Ruhe, welche die Schönheit ihrer junoni-
schen Gestalt noch mehr hervortreten ließ. ‚‚Je lui ai toujours dit qu’il
n’avait pas le pied marin‘“, meinte sie gleichmütig. Das tragische Ereignis
schien auf alle einen stärkeren Eindruck zu machen als auf die schöne Frau,
die mich während der Nacht beherbergt hatte. Von verschiedenen Seiten
wurde angeregt, am Abend die übliche Sauterie ausfallen zu lassen. Sie
widersetzte sich diesem Vorschlag. Sie meinte: „Cela me semble bien exa-
gere. Apres tout, nous ne sommes ni apparentes avec ce jeune @tourdi, ni
autrement lies avec lui. Dansons comme toujours!“ Sie nahm abends am
Tanze teil mit dem Gleichmut, mit dem sie in der spanischen Arena