Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

Die 
Verbindungen 
120 EIN KEILVERSUCH 
heiten gilt das Wort des Heraklit, daß alles fließe. Wie Ebbe und Flut, so 
folgen sich im staatlichen Leben die Epochen. Das wurde mir klar, als ich, 
dreizehn Jahre nachdem ich in Leipzig den Vorträgen von Wilhelm Roscher 
gefolgt war, als Sekretär unserer Botschaft in Paris an einem schönen 
Sommertag im Walde von Saint-Germain den Aufsatz las, den Gustav 
Schmoller im Oktober 1880 in Straßburg geschrieben und in dem von mir 
während Jahren mit Interesse und mit Nutzen gelesenen „Jahrbuch für 
Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft‘ veröffentlicht hatte. Die 
ewigen Pole, um die sich das staatliche, soziale und wirtschaftliche Leben 
dreht, der Gegensatz, um den es sich bei innerpolitischen Kämpfen handelt, 
sind weniger liberal und konservativ alsindividualistisch und zentra- 
listisch. Der Aufstieg des preußischen Staates von 1640, dem Jahr der 
Thronbesteigung des Großen Kurfürsten, bis 1806, dem schwarzen Jahr von 
Jena, vollzog sich im Zeichen der Staatsauffassung, die mit einer bei aller 
Einseitigkeit doch in ihrer Art großartigen Rücksichtslosigkeit gegenüber 
individuellen Rechten und individueller Freiheit das Ganze über den Teil 
setzte. Die Regeneration Preußens von 1808 bis 1871 erfolgte im individua- 
listischen Sinne unter Umsichgreifen und Vordringen liberaler Gedanken 
und Anschauungen. Jede dieser beiden großen Epochen hinterließ wohl- 
tätige Niederschläge: die zentralistische Epoche die Einheit der preußischen 
Monarchie, eine straffe Verwaltung, eine musterhafte Organisation des 
Heeres und des Beamtentums; die individualistische den Schutz indivi- 
dueller Rechte, persönliche Freiheit und freie Bewegung, Verfassung und 
Selbstverwaltung. Bismarck hat mit genialer Unbefangenheit bald in dem 
einen, bald in dem anderen Sinne regiert und so das große, starke Reich 
geschaffen und ausgebaut, das vor dem Weltkrieg bestand, das altpreußisch- 
konservative Tatkraft und Zucht mit deutschem weitherzigem und liberalem 
Geiste verband und das seinesgleichen in der Welt nicht hatte. 
Auch in Leipzig hielten wir uns, mein Bruder Adolf und ich, dem Wunsch 
unseres Vaters entsprechend, dem Verbindungswesen fern. Für das elegan- 
teste Korps galten die „Meißner“. Bald nach unserem Eintreffen erschienen 
zwei Abgesandte bei uns, um mich und meinen Bruder zu „‚keilen“, wie der 
studentische Ausdruck lautet, d. h. für den Eintritt in dies Korps zu ge- 
winnen. Wir blieben aber dem unserem Vater gegebenen Versprechen treu 
und lehnten die Aufforderung ab. Ein junger Schweizer, den wir in Lau- 
sanne kennengelernt hatten und der wie wir seine Studien an der Pleiße 
fortsetzte, forderte uns auf, einem Kneipabend der Verbindung beizu- 
wohnen, der er sich angeschlossen hatte. Der übermäßige Biergenuß an 
jenem Abend widerte uns an, die Kneipwitze sagten uns nichts, der banau- 
sische Ton mißfiel uns, wir sind nicht wiedergekommen. Ich zog es vor, 
meine freie Zeit zum Turnen, Fechten und zu langen Spaziergängen
	        
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