DIE FREUNDIN LASSALLES 12]
zu verwenden und am Abend das bei Roscher Niedergeschriebene zu
überdenken.
Meinem alten Triebe folgend, las ich viel, nicht nur historische und
nationalökonomische Werke, sondern auch Romane, namentlich franzö-
sische Romane. Wer ins Leben eintritt, lernt, wie ich glaube, für Menschen-
behandlung, für das praktische Leben mehr aus Romanen, wird durch sie welt-
kundiger und weltläufiger als durch das Studium der gelehrtesten Kompen-
dien. Vor allem Balzac und Stendhal, Flaubert und Guy de Maupassant,
Turgenjew und Leo Tolstoi, auch die Romane von Disra@li, Thackeray und
Bulwer sind in dieser Richtung zu empfehlen. Die Romane von Gustav
Freytag und Berthold Auerbach, Gutzkow und Spielhagen, von der Marlitt
und der Wilhelmine Hillern gewähren liebenswürdige Einblicke in die Psyche
des deutschen Philisters. Aber sie sind nicht gemacht, als Kompaß bei der bis-
weilen stürmischen Fahrt auf dem Strom der großen Welt zu dienen. Theo-
dor Fontane und Marie von Ebner-Eschenbach eignen sich hierzu mehr.
Der Mangel an Psychologie, der vielen Deutschen eigen ist und in der deut-
schen Politik oft zutage trat, ist auch darauf zurückzuführen, daß der
deutsche Durchschnittsintellektuelle in der eigenen Sprache zu wenig psy-
chologische Romane zur Verfügung hat und deshalb zu viel gelehrte
Schmöker liest.
In dem Leipziger Restaurant, wo ich zu Mittag aß, wurde mir die Gräfin
Sofie Hatzfeldt gezeigt. Man sah ihr nicht an, daß sie in ihrer Jugend
viele Anbeter gehabt hatte. Man sah ihr noch weniger an, daß von ihren
Söhnen der ältere, Alfred, Fürst und erbliches Mitglied des Preußischen
Herrenhauses, der jüngere, Paul, Botschafter und Ritter des Ordens vom
Schwarzen Adler werden würde. Es fiel auch schwer, zu glauben, daß die
streng katholische, hochmoralische Gräfin Melanie Nesselrode-Ehreshofen,
die Gemahlin des Grafen Maximilian von Nesselrode-Ehreshofen, des Ober-
hofmeisters Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin Augusta, die Tochter
der Gräfin Sofie Hatzfeldt war, die in exzentrischer Toilette, eine große
Zigarre im Munde, mit rotgefärbten Haaren durch die Leipziger Straßen
und Wirtshäuser zog am Arme eines weit jüngeren Sozialisten, der, wenn
ich mich nicht irre, Mendel hieß und den genialeren Ferdinand Lassalle
bei ihr als Liebhaber ersetzt hatte. Und doch war sie eine bedeutende I'rau.
Ihr Neffe, der Generalfeldmarschall Walter Lo&, erzählte mir gelegentlich:
„Als Bismarck sich mit Lassalle in Verbindung gesetzt hatte, erhielt meine
Tante, die Gräfin Sofie Hatzfeldt, die damals mit Lassalle noch intim stand,
aus der Umgebung von Karl Marx einen Brief, in dem der Befürchtung
Ausdruck gegeben wurde, daß Ferdinand sich von Bismarck ‚verführen‘
lassen würde. Nachdem sie mit Lassalle gesprochen hatte, erwiderte die
Gräfin Hatzfeldt den Londoner Exilierten, sie möchten sich beruhigen.
Gräfin
Sofie Hatzfeldı