Gneist
126 DIALEKTIK
Mein Vater litt noch schwerer unter dieser Prüfung als meine Mutter.
Bei dieser überwcg der felsenfeste Glaube, daß ihr Kind es im Himmel
besser habe als auf dieser armen Erde. Jedes Hadern mit der Vorselung
erschien ihr als Sünde. „Herr, dein Wille geschehe!“ Sie hielt sich aber
seitdem jeder größeren Geselligkeit fern. Mein Vater hat diesen Schmerz
niemals überwunden. Ich bin überzeugt, daß er während der neun Jahre,
die zwischen dem Tode meiner Schwester und seinem eigenen Tode lagen,
jeden Tag an sie gedacht, sich jeden Tag nach ihr gesehnt hat, auch während
seiner sechsjährigen Tätigkeit an der Spitze des Auswärtigen Amtes, neben
Bismarck. Ich bin überzeugt, daß er, als er starb, sein liebes Töchterchen
vor sich sah, wie sie ihm entgegenkommt, den kleinen Waldemar an
der Hand.
Wie ich in Lausanne nur Professor Gay, in Leipzig nur Wilhelm Roscher
gehört hatte, so befolgte ich auch in Berlin den Rat des Mephistopheles:
„Am besten ist’s, wenn ihr nur einen hört.“ Aber der eine, den ich hörte,
Professor Gneist, war nicht der Mann, der verlangt hätte, daß seine
Schüler auf jedes Wort des Meisters schwören sollten. Dazu war Rudolf
Gneist zu vielseitig, zu beweglich, vielleicht auch zu skeptisch. Er
hatte während der Konfliktzeit dem Ministerium Bismarck die schärfste
Opposition gemacht; später wurde Gneist dem großen Mann eine eifrige
und brauchbare parlamentarische Stütze und entwickelte sich immer mehr
zu einem begeisterten Verteidiger der staatlichen Hoheitsrechte, zu einem
strengen Monarchisten und Unitarier. Es war vor allem seine scharfsinnige
Dialektik, die mich anzog.
Der Berliner „„Kladderadatsch‘“ meinte einmal während meiner Minister-
zeit: Für die Verteidigung des Satzes, daß zwei mal zwei fünf mache, wisse
jeder bessere Jesuit einen Beweis, Miquel zwei und Bülow drei Beweise zu
liefern. Ich möchte meinen, daß wie die oratorische Begabung, der Schwung
des Redners, so auch die dialektische Gewandtheit, die Eristik, dem
Menschen angeboren ist. Als ich nach meinem Rücktritt in dem hand-
schriftlichen Nachlaß von Arthur Schopenhauer die mir bis dahin unbekannte
köstliche Abhandlung über Eristik las, hatte ich die Empfindung, welcher
der „Bourgeois Gentilhomme““ bei Moliere Ausdruck gibt. Dem setzt sein
Lehrer der Philosophie den Unterschied zwischen Prosa und Versen aus-
einander. Der Bourgeois Gentilhomme frägt: „Et comme l’on parle, qu’est-
ce que c’est donc que cela?“ Der Philosoph antwortet: „De la prose.“ Der
Bourgeois Gentilhomme, M. Jourdain, frägt weiter: „Quoi! Quand je dis:
Nicole, apportez-moi mes pantoufles, et donnez mon bonnet de nuit, c’est
de la prose?““ Der Lehrer wiederholt: „„Oui, Monsieur.‘ Darauf der biedere
M. Jourdain: „Par ma foi, il y a plus de quarante ans que je dis de la prose
sans que j’en susse rien.“ Was Schopenhauer über die Kunstgriffe der