„AUBURN HAIR“ 141
Kindheit erinnerte, weil ich mit meinen Eltern auf der Reise nach Blanken-
berghe dort abgestiegen war. An der Tür empfingen uns der Oberkellner
und ein Stubenmädchen, die uns offenbar für ein jungverheiratetes Ehepaar
hielten. Der Oberkellner, dem ich mit Aplomb erklärte, unser großes Gepäck
werde am nächsten Tage eintreffen, führte uns in ein geräumiges Schlaf-
zimmer, in dem ein großes Himmelbett stand. Das Stubenmädchen
flüsterte meiner errötenden Begleiterin zu: „Gnädige Frau werden sich hier
sehr wohl fühlen. Hier haben schon viele Neuvermählte ihre Hochzeitsnacht
gefeiert.‘“ Stubenmädchen und Kellner zogen sich diskret zurück, wir
standen uns allein gegenüber.
Meine Reisegefährtin erschien mir noch liebenswürdiger als am Vor-
mittag auf dem Rheindampfer. Ich hatte sofort bemerkt, daß sie kleine
und hübsche Füßchen und lange, feine Hände hatte. Sie hatte auch blaue,
ausdrucksvolle Augen und ein reizendes Stumpfnäschen. Ihr Haar war
kastanienbraun, „auburn hair“, wie die Engländer es nennen. Das Lächeln,
das um ihren Mund spielte, der Blick ihrer Augen ließen mich hoffen, daß
ich ihr nicht ganz unsympathisch wäre. Faust sagt zu Gretchen: „Ach,
kann ich nie ein Stündchen ruhig dir am Busen hängen und Brust an Brust
und Seel’ an Seele drängen?“ Das arme Gretchen erwidert: „Ach, wenn
ich nur alleine schliefe! Ich ließ’ dir gern heut nacht den Riegel offen. Doch
meine Mutter... .‘“ Zwischen mir und meiner kleinen Freundin stand keine
störende Mutter.
Der Morgen, wo es Abschied nehmen hieß, war sehr traurig. Nach
einer letzten, stürmischen und nach einer allerletzten, noch stürmischeren
Umarmung brachte ich meine kleine Gefährtin auf die Bahn. Aus dem
Eckfenster des Abteils, in dem sie Platz nahm, rief sie mir zu: „Ver-
giß mich nicht, ich werde dich nie, nie vergessen!“ Das Publikum
lachte. Wie roh sind doch die Menschen, wie verständnislos für hohe und
wahrhaft edle Empfindungen, dachten wir beide. Sie ließ sich aber nicht
irre machen, warf mir unbekümmert um das ‚„‚profanum vulgus“ ein Kuß-
händchen nach dem andern zu und flüsterte, während der Zug sich langsam
in Bewegung setzte, schelmisch: „Du bist wirklich kein Kind, wie ich auf
dem Dampfschiff zu dir sagte. Du bist ein Mann, ein reizender Mann
und...“ Ihre letzten Worte aus dem abfahrenden Zug erreichten mich nicht
mehr. Bald entschwand ihr liebes Köpfchen, dem meine sehnsüchtigen
Blicke folgten.
Lange, sehr lange habe ich nichts von meiner kleinen Kölner Freundin
gehört. Erst nach siebenunddreißig Jahren, longum spatium aevi, nach den
glücklichen Reichstagswahlen von 1907, erhielt ich ein Lebenszeichen von
ihr. Sie müsse mir gratulieren, schrieb sie in einem hübsch tournierten
Briefchen, und wolle mir gleichzeitig sagen, mit welchem Anteil sie meinen