Das
Königreich
Belgien
172 DER MUSTERSTAAT EUROPAS
Gesellschaft waren wesentlich gleiche Begriffe, das Bürgertum gab den Ton
an, wie sozial so auch in der Verwaltung und in der Regierung. Selbst der
Hof hatte bei vornehmen Allüren doch etwas Bürgerliches, was Groß-
herzog Friedrich I. und sein Sohn, der Großherzog Friedrich 1I., auch nach
außen gern hervortreten ließen. Es war bezeichnend für die badische
Dynastie, daß die Prinzen ihres Hauses, wenn sie in Heidelberg studierten,
nicht bei den Saxo-Borussen einsprangen, wo die Fine fleur des preußischen
Adels den Ton angab, auch nicht bei den Westfalen und Vandalen, die der
holsteinische und der mecklenburgische Adel, hier und da auch distinguierte
Hanseaten aufsuchten, sondern bei den Schwaben, auf deren Kneipe der
bürgerliche Badenser sein „Altheidelberg, du feine‘ sang.
Wie Baden für den aufgeklärten Deutschen der Musterstaat war, so galt
hierfür in der Welt seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts das
Königreich Belgien. Die belgische Verfassung schien die richtige Mitte
zwischen Freiheit und Ordnung zu halten. Mit ihr hatte sich das junge
Königreich zu großer wirtschaftlicher Blüte entfaltet. Sie hatte ein aus
zwei verschiedenen Stämmen, aus den romanischen Wallonen und den
germanischen Flamen, bestehendes Volk unter der Devise „L’union fait la
force!“ geeinigt. Im Zeichen der Freiheit hatte Belgien Probleme gelöst, die
anderen Ländern ernste Schwierigkeiten und gefährliche Konflikte be-
reiteten. In Löwen bestand eine strengkatholische Universität, die unter
der Obhut und Leitung des Episkopats allen Anforderungen der römisch-
katholischen Kirche besser entsprach als irgendeine andere Hochschule der
Welt, selbst Rom und Innsbruck nicht ausgenommen. Aber ganz in der
Nähe von Löwen, in der Hauptstadt Brüssel, war eine freie Universität
gegründet worden, auf der sich Rationalismus, Materialismus und Atheismus
mit einer Ungebundenheit breitmachten, die kaum in einem anderen Lande
erreicht wurde und die doch in dem Volke, von dem man hatte sagen
können, es gehöre zum Grundcharakter des Belgiers, daß er katholisch sei,
niemand störte.
Ich entsinne mich eines Gespräches, das ich in den ersten Jahren
meiner Kanzlerzeit mit meinem lieben Freunde, dem Zentrumsabgeord-
neten Franz Arenberg, und dessen Parteigenossen, dem Baron Hertling,
führte. Wir hatten a trois gegessen. Nach dem Essen besprachen wir den
alten Plan einer deutschen katholischen Universität, mit der übrigens
Hertling nicht viel im Sinne hatte. Er frug den Prinzen Arenberg, dessen
Eltern in Belgien lebten, wie es dort stünde. Arenberg erzählte, daß in
Brüssel eine akatholische, im Grunde antikatholische, und in Löwen eine
orthodox-katholische Universität floriere. Ich schlug Hertling vor, aus
Ingolstadt ein bayrisches Löwen zu machen und dafür die bestehende
Münchner Universität im „voraussetzungslosen“ Sinne auszubauen.