Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

Kindheit in 
Frankfurt 
4 ZWISCHEN NORDEN UND SÜDEN 
Anwendung ihrer unbedingten Forderungen auf eine bedingte Welt mit sich 
selbst gerät? Jeder ehrlich erzählte Lebenslauf mag der Prüfung dieser 
Frage zugute kommen. 
Wenn ich, nachdem ich das Alter des Psalmisten überschritten habe, 
meine Lebenserinnerungen niederschreibe, so möchte ich dies voraus- 
schicken: Wer auf ein nicht nur langes, sondern auch bewegtes Leben 
zurückblickt, der weiß, daß Memoiren nur dann einen Wert haben, wenn 
sie aufrichtig und innerlich wahr sind. Wenn der Autor sagt, was war, wenn 
er berichtet, wie es zuging, wirklich zuging. Goethe hat einmal gesagt, daß, 
wer ein Blatt Papier vor sich und eine Feder in der Hand habe, getrost ans 
Werk gehen möge. Wenn er über seine Erlebnisse und Empfindungen die 
Wahrheit sage, könne er ein gutes, ja ein nützliches Buch schreiben. Ich 
trete nicht vor den Leser mit den Worten, mit denen Jean-Jacques Rous- 
seau, seine „„Confessions‘“ in der Hand, vor den lieben Gott treten wollte, 
wenn einst die Trompete des Jüngsten Gerichts erschallen sollte: „Voila ce 
que j’ai fait, ce que j’ai pense€, ce que je fus. Rassemble autour de moi 
l’innombrable foule de mes semblables; qu’ils &coutent mes confessions, 
qu’ils rougissent de mes indignites, qu’ils gemissent de mes miseres. Que 
chaqun d’eux decouvre a son tour son caur au pied de ton tröne avec la 
m&me sinc£rite, et puis qu’un seul te dise, s’il l’ose: Je fus meilleur que cet 
homme la.“ Ich begnüge mich mit dem Wort des Terenz, das den Beifall 
des heiligen Augustinus fand: „Homo sum; humani nil a me alienum puto.“ 
Ich betrachte es als ein Glück, daß ich die ersten Eindrücke meines 
Lebens in Frankfurt a. M. empfing. Als der spätere Finanzminister Johannes 
Miquel 1880 sein Amt als Oberbürgermeister von Frankfurt antrat, sagte 
e.M. ihm die Kaiserin Augusta in der ihr eigenen nachdenklichen und dabei 
geistig feinen Art: „Frankfurt ist weder Norddeutschland noch Süddeutsch- 
land. Frankfurt ist eben Frankfurt.‘ Daß ich in der Stadt aufwuchs, wo 
norddeutsche und süddeutsche Art sich begegnen, die den Süden mit dem 
Norden verbindet, hat mich von Kindesbeinen an gegen allen Partikula- 
rismus gefeit und es mir erleichtert, mich frühzeitig mit der Gesinnung zu 
erfüllen, in welcher der wackere, als ich ein Knabe war, noch lebende Ernst 
Moritz Arndt 1813 gesungen hat: „Das ganze Deutschland soll es sein!“ 
In diesem Sinne faßte ich Jahrzehnte später, am 13. Januar 1902, im Preu- 
ßBischen Abgeordnetenhaus mein politisches Glaubensbekenntnis in die 
Worte zusammen: „Nach einseitigen Gesichtspunkten werde ich Ihnen die 
Politik dieses Landes niemals zurechtschneiden. Ich werde Ihnen ebenso 
wenig eine protestantisch-konfessionelle oder eine katholisch-konfessionelle 
Politik machen, wie ich Ihnen eine liberale oder eine konservative Partei- 
politik machen kann und will. Für mich als Ministerpräsidenten und 
Reichskanzler gibt es weder ein katholisches noch ein protestantisches,
	        
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