Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

BEIM CURE VON MOULINOT 197 
Morgen war eine Revolte gewesen, bei der alle Fenster im Rathaus ein- 
geschmissen worden waren. An den Straßenecken waren noch die Prokla- 
mationen zu lesen, nach denen sich Rouen eher unter seinen Trümmern be- 
graben als sich ergeben wollte. Gegen Abend kamen wir in die Quartiere. 
Wir blieben Mittwoch und Donnerstag in der Stadt, die hochinteressant ist. 
An beiden Seiten der Seine läuft der Quai Napoleon mit schönen Läden, 
Cafes und Gasthöfen. Die übrigen Straßen der Stadt sind eng und schmutzig 
bis auf zwei prächtige Boulevards: De la Republique (früher de ’Empereur) 
und Du grand Pont, die vom Rathausplatz zum Fluß führen. Das Rathaus 
selbst ist groß, aber nicht bedeutend, sehr schön dagegen die Kirche Saint- 
Ouen, die dicht daneben liegt, im gotischen Stil mit drei Türmen, davor 
ein Monument Napoleons I., mehr groß als geschmackvoll. Auch die Kathe- 
drale erschien mir eigentlich mehr merkwürdig als schön mit ihrem schorn- 
steinartigen Turm. Herrlich dagegen ist das Palais de Justice, wie man mir 
sagt, das schönste in Frankreich. Im gotischen Stil, mit unzähligen Erkern, 
Türmchen und Fenstern. Merkwürdig ist auch der Platz, wo die Jungfrau 
von Orleans verbrannt wurde, mit ihrem Denkmal. Könnt Ihr Euch er- 
innern, mit welcher Begeisterung ich einst die ‚Jungfrau von Orleans‘ von 
Schiller las. Ich weinte vor Enthusiasmus bei der Szene, wo die Jungfrau, 
im Turm eingesperrt, den Gang der Schlacht verfolgt. Ich muß damals acht 
oder neun Jahre alt gewesen sein. Leider hat mich der Rittmeister auf Brief- 
Relais geschickt. Diese Unannehmlichkeit verdanke ich besonders meinem 
Französisch, das bei solchen Gelegenheiten herhalten muß. Einen Versuch, 
ihn umzustimmen, nahm er sehr ungnädig auf, mit Poltern und Schimpfen. 
Ich sitze hier nun mit einem Unteroffizier und vier Mann in einem kleinen 
Nest, sechzig Kilometer von Rouen. Unsere Aufgabe ist, Briefe an die gegen 
Havre usw. rückenden Truppen zu befördern. Tragen sie ein Kreuz, so 
machen wir es im Schritt ab, wenn zwei Kreuze, im Trab, wenn drei Kreuze 
im Galopp (+, ++, +++). Es reiten immer zwei zusammen. So komme 
ich leider um die Aussicht, Havre und Honfleur zu sehen! Ich habe mich 
hier mit dem Cur£ angefreundet, bei dem ich heute mittag Kaffee getrunken 
habe. Er zeigte mir die schöne, von der Reine Blanche erbaute Kirche, mit 
herrlicher Aussicht auf die Seine, die durch wundervolles Land fließt, viele 
Dörfer mit hübschen Kirchen, Schlösser, Villen, zum Teil am Wasser, zum 
Teil an den an beiden Seiten begrenzenden Hügeln. Der Cure und ich 
führten auch lange Religionsgespräche. Er ist ein milder, gutherziger Geist- 
licher.“ 
Am 19. Dezember schrieb ich aus Montdidier: „Liebe Eltern, wir sind 
von Rouen hierher zurückmarschiert und hatten meist sehr schlechte Quar- Rückmarsch 
tiere, doch geht es mir unberufen sehr gut. Wir passierten mehrere kleine nach 
Städte, wie Cr&veceur, Breteuil und einige andere. Ruhetag hatten wir Montdidier
	        
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