Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

JULIE 199 
konservativer Präsident des Abgeordnetenhauses meiner mehr auf Aus- 
gleich als auf Verschärfung der deutschen Partei-Gegensätze gerichteten 
Politik manche Schwierigkeiten bereitet. 
Am 22. Dezember rückte die 1. Schwadron in Camon ein, einem sauberen 
Dorf an dem rechten Ufer der Somme, zwischen Amiens und Corbie. Ich 
wurde mit meinem Burschen in einem größeren Bauernhause untergebracht, 
dessen Besitzer offenbar beweisen wollte, daß Bismarck so unrecht nicht 
hatte, wenn er zu sagen pflegte, Reichtum habe ein Hasenherz. Jammernd 
erwartete er die preußische Einquartierung: „Gräce, Monsieur le Prussien, 
gräce pour moi, gräce pour ma pauvre femme.‘ Schluchzend und heulend 
stimmte die Gattinein. Ichsuchtebeidezuberuhigen,indemich sie versicherte, 
ich hätte nicht die Gewohnheit, ein älteres Ehepaar zum Frühstück zu ver- 
speisen. Ich wünschte gar nicht im Hause zu wohnen, wenn meine Gegen- 
wart dort solches Entsetzen verbreite. Ich verlangtelediglich fürmeine beiden 
Pferde, mein eigenes und das meines Burschen, eine Unterkunft, die sich 
leicht in dem dicht beim Hause gelegenen Stall finden würde. Die einzige 
Verständige im ganzen Hause war ein junges Mädchen, anscheinend eine 
Verwandte des Hauses. Ohne den Kopf zu verlieren, setzte sie ihrer Familie 
auseinander, daß ich gar nicht so aussähe, als ob ich sie alle umbringen 
wollte. Ich dankte ihr für ihre wohlwollende Beurteilung meiner beschei- 
denen Person. Ich fügte hinzu, sie scheine mir der einzige Mann in der 
Familie zu sein. Der allmählich beruhigte Alte stimmte mir zu: „C’est bien 
vrai, Julie a le diable au corps.““ Julie führte mich in den Stall. Ich streckte 
mich auf meinem Strohlager aus und schlief, bis der Trompeter die Re- 
veille blies. 
Der Morgen des 23. Dezember 1870 war angebrochen. Der Tag war klar 
und windstill mit acht Grad Kälte. Als ich aus dem Stall in die Sattel- 
kammer trat, stand Julie dort. Ich bemerkte erst jetzt, daß sie schön war, 
groß und wohlgewachsen, mit Augen, aus denen Mut und Energie sprachen, 
mit vollem, rabenschwarzem, in einen Knoten geschlungenem Haar, mit 
roten Lippen und einem kräftigen Mund. Sie frug mich, ob es wahr wäre, 
daß eine Schlacht bevorstünde, wie das im Dorf erzählt würde. Ich er- 
widerte, das sei nicht ausgeschlossen. Sie meinte: „Pour sür, vous allez vous 
faire tuer, car je suppose que vous serez aussi brave que vous £&tes bon et 
genereux.“ Ich glaube, daß das Ungewöhnliche der Lage, die bevorstehende 
Schlacht mit ihren Wechselfällen und Gefahren, die Stille des frühen Mor- 
gens uns zwei junge Menschenkinder, den Sohn und die Tochter zweier ein- 
ander feindlicher Völker, wie in einen Taumel versetzt hatte. Psychologisch 
war das, wie ich rückschauend feststelle, wohl begreiflich. Unsere Nerven 
waren aufgepeitscht. Wir waren unserer Sinne nicht mehr mächtig. Ich zog 
das schöne Weib an mich. Unsere Lippen suchten und fanden sich, Wir ver- 
Der 23. De- 
zember 1870
	        
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