IM FRANKFURTER RÖMER 5
weder ein konservatives noch ein liberales Preußen und Deutschland,
sondern vor meinen Augen steht nur die eine und unteilbare Nation, unteil-
bar in materieller und unteilbar in ideeller Beziehung.‘‘*
Keine Stadt in Deutschland war wohl mehr geeignet als Frankfurt, dem
Knaben die Einheit, die Größe, aber auch die Tragik der deutschen Ge-
schichte vor Augen zu führen. In dem ehrwürdigen Dom, der sich über der
Straßen quetschende Enge und niedrige Häuser, über Giebel und Dächer,
über das ganze Frankfurter Häusermeer gotisch und dunkel erhebt, waren
die Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gewählt und
gekrönt worden. Hier hatte Bernhard von Clairvaux vor Konrad III. den
Kreuzzug gepredigt, und der erste der Hohenstaufen-Kaiser trug den
Zisterzienser-Abt auf seinen Armen aus dem Getümmel des Volkes. Nicht
weit vom Dom erblickte ich den dreigiebligen Römer. Ich stieg die breite
Steintreppe empor und stand im Kaisersaal. An der Hand meines Haus-
lehrers Lohr, eines wackeren Kurhessen, der später als Generalsuperinten-
dent der Provinz Hessen-Nassau viele Jahre segensreich gewirkt hat, be-
trachtete ich die überlebensgroßen Bilder der deutschen Kaiser. Mit Ehr-
furcht stand ich vor dem großen Karl, der Frankfurt den Namen gab. Das
Rolandslied, so belehrte mich mein Lehrer, rühme von diesem ersten deut-
schen Kaiser, er sei den Feinden des Reiches schrecklich, dem deutschen
Volke aber traulich gewesen, zwölf Paladine hätten ihn umstanden wie
Christum die zwölf Apostel. Die Geschichte melde, daß Orient und Okzident
sich vor ihm neigten, die Kirche ihn unter ihre Heiligen versetzte, daß er
der Bildner und Schöpfer seines Zeitalters war, der Begründer der mittel-
alterlichen Bildungsformen. Und der gute Lohr, der ein feuriger Patriot
war, prägte mir die wehmütigen Verse ein, die zwanzig Jahre früher, an-
gesichts der beiden im Schwabenlande sich erhebenden schlanken histo-
rischen Berggipfel, des Hohenstaufen und des Hohenzollern, der schwä-
bische Dichter Pfizer an den ersten deutschen Kaiser gerichtet hatte:
Kaiser Karl, von dem sie sagen,
Daß noch oft Dein Banner rauscht,
Wenn Du fliegst im Wolkenwagen
Und Dein Volk dem Siegsruf lauscht,
Wo bist Du? Den Ruf zum Siege
Freilich hört kein Deutscher mehr;
Und der Glaube ward zur Lüge,
Harrt umsonst der Wiederkehr.
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe, herausgegeben von Johannes Penzler und Otto
Hoertsch, Band I, Seite 260. — Fürst Bülows Reden, Kleine Ausgabe herausgegeben
von Wilhelm von Massow, Band II, Seite 99.