Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

HIMMLISCHE UND IRDISCHE LIEBE 249 
Eltern. Ich durfte sie auch Sonntags zur Messe begleiten in den herrlichen 
Dom von Amiens, der an Pracht und Reinheit des gotischen Stils von 
wenigen anderen Kirchen übertroffen wird. Wir standen vor den drei Por- 
talen der Kirche und bewunderten Hand in Hand ihre Bilder und Ge- 
stalten: Die Darstellung der Schöpfungsgeschichte, der Propheten und der 
Heiligen, der Jahreszeiten und der Sternbilder und der Gewerbe. Die 
Kathedrale von Amiens erschien mir als eine Schwester der Kathedrale von 
Reims. Es ist in der Tat schwer zu sagen, welche von beiden die schönere 
ist. Mademoiselle Marie führte mich zum „beau Dieu‘, zu dem „schönen 
Gott‘, einer gotischen Figur, die Gott-Vater, der meist als zürnender Greis 
abgebildet wird, als einen milden und liebenswürdigen Jüngling zeigt. 
Diesem „‚beau Dieu“ ist nicht zuzutrauen, daß er seine Geschöpfe zu ewigen 
Höllenstrafen verdammen sollte. Der „beau Dieu“ ist der Stolz von Amiens. 
Ich setzte meiner jungen Freundin auseinander, daß der deutsche Wald, in 
dem die Äste und Zweige benachbarter Bäume sich begegneten und inein- 
ander verschlängen, das Urbild aller gotischen Kathedralen und auch der 
lieben Kathedrale von Amiens wäre. Auf dem Rückwege aus der Kirche 
sprachen wir lange und eifrig über Religion und religiöse Fragen. Gegen- 
über dem Zauber der katholischen Liturgie und der in ihrem Mittelpunkt 
stehenden Messe, für den ich nicht unempfänglich war, verteidigte ich mit 
Lebhaftigkeit meinen evangelischen Standpunkt. Ich kam aber nicht 
weiter als Faust mit dem guten Gretchen, die ihm auf sein herrliches 
Glaubensbekenntnis antwortet: 
„Wenn man’s so hört, möcht’s leidlich scheinen, 
Steht aber doch immer schief darum; 
Denn du hast kein Christentum.“ 
Trotz unserer religiösen Differenzen fühlte ich, daß Marie de Y. mir gut 
war. Ich meine aber doch, daß ich wohl daran tat, mit ihr keinen ewigen 
Bund zu flechten. Von allen übrigen Gründen abgesehen, war ich für die 
Ehe viel zu jung, auch zu unreif. Aber es war nicht allein solche verständige 
Erwägung, die mich von dem lieben Mädchen trennte. Vielleicht das 
schönste, jedenfalls das am meisten besprochene Bild von Tizian hängt in 
der Galerie Borghese in Rom: Auf dem Rande eines Marmorsarkophags, 
der als Brunnen dient, sitzen zwei Frauen, die eine bekleidet‘, ernst und 
sinnend; die andere, nackt, enthüllt herrliche Formen, lächelt rätselhaft 
und verführerisch. Ein reizender Knabe steckt seinen Arm in den Brunnen. 
Das Bild ist weltbekannt unter dem Namen ‚Amore sacro e profano“. 
Wenn die zärtlichen Empfindungen, die mich mit Marie de Y. verbanden, 
durchaus den Charakter des Amore sacro trugen, so kann ich leider nicht 
dasselbe von meinen Beziehungen zu Mrs. Z. sagen, die dadurch erleichtert 
Im Dom 
von ‚dmiens 
Mrs. 2.
	        
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