268 E. I. BEKKER UND DAS ALLGEMEINE WAHLRECHT
begriffe des preußischen Offiziers für seine Lebensanschauung bestimmend
geblieben seien.
Während seiner Militärzeit war er in freundschaftliche Beziehungen zu
dem Grafen Karl Bismarck-Bohlen getreten und hatte, von diesem ein-
geführt, in der Konfliktzeit fast ein Jahr im Auswärtigen Amt unter Otto
von Bismarck-Schönhausen gearbeitet, dem er seitdem in unerschütterlicher
Treue und Bewunderung anhing. Das verhinderte ihn nicht, auch die
Irrtümer und Fehler des großen Staatsmannes zu erkennen. Für den
verhängnisvollsten dieser Fehler hielt Bekker die Einführung des all-
gemeinen Wahlrechts. Er schrieb darüber schon in den siebziger Jahren:
„Warten Sie keine hundert Jahre, und alle Welt wundert sich, wie Bismarck,
unser großer, allverehrter Bismarck, so was uns einbrocken konnte. Nun,
Bismarck war doch eben auch nur ein Mensch. Und es ist mir noch sehr gut
erinnerlich, wie mein Freund Karl Bismarck auf meine Bedenken mir sagte,
sein großer Vetter habe das auch nur getan der kleinen Fürsten wegen, die
sollten jetzt tanzen lernen. Dazu brauche er die Massen, mit denen er dann
schon fertig werden würde. Derselbe Rechenfehler wie beim Kulturkampf.“
Bekker war ein strammer Konservativer im altpreußischen Sinne, aber den
ursprünglich eigenen Sinn hat er sich auch von seiner Partei nie rauben
lassen. Er fand es begreiflich, daß die Konservativen Bismarck Opposition
machten, als dieser im ersten Quinquennium nach der Wiedererrichtung
des Reiches wirtschaftlich und politisch liberale Wege einschlug. Aber er
beklagte es tief, daß einzelne konservative Politiker sich gegen den großen
Minister zu unwürdigen persönlichen Verdächtigungen hinreißen ließen.
Viele Jahre später, 1909, hat Ernst Immanuel Bekker den Widerstand der
Konservativen gegen die von mir vorgeschlagene maßvolle Erbschaftssteuer
wie gegen die gleichzeitig von mir in Angriff genommene, notwendige
Reform des preußischen Wahlrechts „undankbar, überdies unpolitisch“
genannt und die üblen Folgen vorausgesehen und vorausgesagt, die diese
konservative Taktik für die konservative Partei selbst und leider auch für
Preußen und Deutschland haben würde.
In Greifswald erlebte ich die Anfänge des Kulturkampfes. Am
Der 18. Januar 1872 wurde dort der Jahrestag der ein Jahr vorher erfolgten
Kulturkampf Proklamation des deutschen Kaiserreiches mit einem von allen Kreisen der
Stadt und namentlich den Lehrern der Hochschule besuchten Kommers
gefeiert. Im Laufe des Tages war die Nachricht eingetroffen, daß der
Kultusminister von Mühler seine Entlassung erhalten habe. Der Jubel
war groß. Nun, hieß es, breche ein neuer, schöner Morgen an. Die Sonne der
‚. Aufklärung und geistigen Freiheit sei für Deutschland aufgegangen. Nur
der Kaplan Hartmann schüttelte den Kopf. „Es ist nicht die Kirche“, sagte
er zu mir, als wir nach dem Kommers über den Markt mit seinen Giebel-