Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

274 TSCHOPPE 
der immer schärfere Formen annahm. Nie fiel im Kreise der Kameraden 
eine Äußerung, die einen Andersgläubigen hätte verletzen können. Der 
evangelische Offizier führte, wenn es der Dienst so mit sich brachte, am 
Sonntag die katholische Mannschaft in den ehrwürdigen Münster, der 
katholische die evangelischen Husaren in die schöne, neuerbaute evangelische 
Kirche. Ich will nicht verschweigen, daß wir Evangelischen unser Haupt 
verhüllten, wenn wir im Gefängnishof die Kapläne spazierengehen sahen, 
die dafür, daß sie die ihnen pflichtgemäß obliegende Messe gelesen hatten, 
hier ihre Strafe abbüßten. Erreicht wurde durch diesen wenig würdigen 
Kleinkrieg nur, daß der religiöse Eifer des katholischen Bevölkerungsteiles 
noch mehr angefeuert wurde. Der kluge Giacomo Antonelli behielt recht. 
Am 11. Juni 1872 wurde ich zu den Reserveoffizieren des Regiments 
versetzt. Einige Tage später gab mir das Regiment ein Abschiedsessen im 
Kasino, bei dem der Kommandeur, Prinz Heinrich XIII. Reuß, einen sehr 
gütigen Trinkspruch auf mich ausbrachte. Als wir nach Aufhebung des 
Essens in dem kleinen Gärtchen vor der Veranda zusammenstanden, hörte 
ich meinen Freund Schrader mit seiner Trompetenstimme erklären: „Ich 
bleibe dabei, daß Tschoppe noch einmal Reichskanzler wird.“ Tschoppe 
war der Spitzname, den ich im Regiment trug. Warum ich so genannt 
wurde, weiß ich nicht mehr und habe es vielleicht nie gewußt. Spitznamen 
entstehen meist durch Zufall, in der Weinlaune oder durch plötzliche 
Inspiration. Die Vorsehung hat es weise so eingerichtet, daß der Mensch in 
seiner Jugend empfänglicher ist für Freud und Leid als im Alter. Bonn und 
meinem Regiment Lebewohl zu sagen, wurde mir, wie es mir wenigstens 
heut erscheint, saurer als spätere Abschiede aus größeren Städten und 
Wirkungskreisen. Ich habe das Kasino meines Regiments und die Stern- 
torkaserne erst dreißig Jahre später wiedergesehen, als Reichskanzler. 
Am Tage nach meinem Abschiedsessen verließ ich Bonn. Es war mir eine 
große Freude, daß mein lieber Franz Arenberg mir seine Absicht anvertraute, 
mit mir nach Metz zu gehen. Wir verabredeten, daß wir uns dort Ende 
August treffen und, wenn möglich, eine gemeinsame Wohnung beziehen 
würden. Die Zwischenzeit verlebte ich in Klein-Flottbek in der Elbpark- 
villa, die ich als entamteter Kanzler im Sommer bewohne. Ich hauste ın 
einem Zimmer des zweiten Stockes, das jetzt meine liebenswürdige 
Sekretärin beherbergt, der ich diese Erinnerungen diktiere. Das Zimmer ist 
nicht allzu groß, gewährt aber einen schönen Blick auf die schöne Elbe. 
In Flottbek, das mir immer als meine eigentliche Heimat erschienen ist, 
freute ich mich des Zusammenseins mit meinen guten Eltern und studierte 
unter den ernsten Augen meines Vaters den Leitfaden von Martens. Mein 
Vater kommentierte und erläuterte mir den „Guide diplomatique“. Ich 
konnte mir keinen besseren Mentor wünschen. Bismarck wußte, warum er
	        
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