DAS STAUNEN 299
die gute Prinzessin Karl von Preußen, die ältere Schwester der Kaiserin
Augusta. Als sie im Januar 1877 ihr Ende herannahen fühlte, legte sie die
Abzeichen ihres Regiments, des Westfälischen Feld-Artillerie-Regiments
Nr.7,an. Dann ließ sie Bismarck zu sich bitten und dankte ihm ineinfachen,
rührenden Worten für alles, was er für das Königliche Haus, für Preußen
und für Deutschland getan habe. Dann starb sie am 18. Januar, am
preußischen Krönungstag.
In der sogenannten Gesellschaft wurde im Winter 1873/74 maßlos über
Bismarck räsoniert. Wenige Tage nach meinem damaligen Eintreffen in
Berlin aß ich bei dem französischen Botschafter, dem Vicomte de Gontaut-
Biron. Neben mir saß der Rittmeister im Garde-Kürassier-Regiment Graf
Konrad Lüttichau, ein prächtiger Typus des echten Gardeoffiziers der alten
Zeit: stramm im Dienst, vornehm in Haltung und Gesinnung, dabei ein
guter Kerl. Als wir beim Braten angelangt waren, sagte er zu mir: „Ich
denke, wir werden gute Freunde werden. Gardekürassiere und Königs-
husaren gehören zusammen. Nur über eins müssen Sie sich klar sein: Wir
alle in der guten Gesellschaft können Bismarck nicht leiden.“ Den Grund
zu dieser Stimmung hatte der Kulturkampf gelegt, der bald zu dem Bruch
zwischen dem leitenden Staatsmann und den altpreußischen Konservativen
führte. Verschärft wurde später die Unzufriedenheit mit Bismarck durch
dessen schonungsloses Vorgehen gegen den Botschafter in Paris, den Grafen
Harry Arnim, mit dem er die höfische, diplomatische und gesellschaftliche
Fronde treffen und einschüchtern wollte.
Wenn Bismarck iu seinen Salon eingetreten war, so erfaßte mich jener
heilige Schauer, der den für Großes empfänglichen, Größe begreifenden
Menschen erfaßt, wo die Kritik aufhört und das Staunen (to Yaüua)
beginnt. Wenn Bismarck sich zurückgezogen hatte und ich wieder, vorbei
an den beiden Sphinxen, das Haus Wilhelmstraße 76 verließ, so stieg
schon in meinen jungen Jahren die Sorge in mir auf, was ohne Bismarck
aus dem deutschen Volke werden würde. Ich brauchte nur die Reichstags-
verhandlungen zu verfolgen, die Zeitungen aller Parteien zu lesen, die
politische Unterhaltung in den von mir besuchten Häusern anzuhören, um
mir klarzuwerden, daß die Vorsehung, die den Deutschen mit so vielen
reichen Gaben und edlen Tugenden zierte, ihn leider als Z60v» arxoAırıxöv
schuf. Mir schwante, daß uns Deutschen vielleicht gerade wegen unserer
Sachlichkeit, Gründlichkeit und Stetigkeit für das unruhige, unstete und
sprunghafte Gewerbe der Pulitik viele Voraussetzungen fehlten. Der
Deutsche ist sachlich. „Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen
tun“, hat Richard Wagner gesagt und damit den innersten Kern des
deutschen Wesens getroffen. Der erfolgreiche Politiker aber ist selten
sachlich, meist opportunistisch und kennt nur das Interesse seines Landes.
Bismarck und
der Reichstag