Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

DIE KÖNIGLICHE RESIDENZSTADT 301 
Als ich 1863 zum erstenmal nach Berlin gekommen war, zählte die 
Stadt kaum vierhunderttausend Einwohner. Noch stand der alte Dom, 
noch standen die Häuser an der Schloßfreiheit. Auf dem Dönhoffplatz 
stand noch der Meilenstein, dagegen weder Stein noch Hardenberg. 
Auf dem Enckeplatz stand die Sternwarte. Der biedere Encke hatte 
einen Kometen entdeckt, den Enckeschen Kometen. Auf dem Lützow- 
platz standen noch Buden. Außer den Linden gab es noch manche 
andere Straße mit grünen Bäumen. Es gab aber auch Straßen mit offenen 
Rinnsteinen. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, waren selbst 
elegante Straßen, wie die Behrenstraße und die Französische Straße, 
von offenen Rinnsteinen durchzogen. Die Kanalufer waren noch mit 
Rasen bewachsen. Am Mühlendamm feilschten und schrien noch echte 
polnische Juden. 
Am Kreuzberg dehnte sich eine Sandwüste aus. Auf dem Tempelhofer 
Feld weideten Schafe unter der Obhut eines nachdenklichen Schäfers, der 
Strümpfe strickte. Viele Drachen stiegen dort in die Lüfte. Der Berliner 
war noch stolz auf sein Aquarium, auf sein Panoptikum, auf das Cafe Bauer, 
auf die Konditorei Kranzler, wo elegante Gardeoffiziere ihre langen Beine 
vor sich ausstreckten und mit dem Monokel die vorübergehenden Damen 
beifällig musterten. Ich hatte damals das Berliner Pflaster recht schlecht 
gefunden, die Droschken noch schlechter. Die langen Straßen erschienen 
mir, verglichen mit dem Hamburger Neuen Wall und der Frankfurter Zeil, 
menschenleer, fast öde. Am meisten gefielen mir kaum vierzehnjährigem 
Knaben die kleinen Buden am Prinzessinnenpalais, wo alle möglichen 
Waren feilgeboten wurden. Als mein Vater dort eine Kleinigkeit erwarb, 
erzählteuns die Verkäuferin, daß deralte König Wilhelm in der Weihnachtszeit 
bei ihr bescheidene Geschenke für seine Familie und seine Umgebung zu 
kaufen pflegte. Als sie ihm einmal einen etwas kostspieligeren Artikel 
vorgelegt hatte, habe er diesen Vorschlag abgelehnt und ihr scherzend 
mit dem Finger gedroht: „Sie sind die Schlange der Verführung.“ Die 
loyal gesinnte Ladenmamsell meinte dazu: „Unser König ist der beste, 
gütigste Mensch von der Welt, und doch wird so auf ihn geschimpft.““ 
Als ich im März 1866 nach meiner Konfirmation einige Tage mit meinen 
Eltern in Berlin weilte, wurde vor uns in derKonditorei Josty am Pots- 
damer Platz von demokratisch gerichteten Besuchern höhnisch erzählt, 
man habe am Tage vorher an das Denkmal Friedrichs des Großen einen 
Zettel geklebt mit den Worten: 
Ach, alter Fritze, steig hernieder, 
Und sei du unser König wieder, 
Und laß in diesen schweren Zeiten 
Nur lieber unsern Wilhelm reiten. 
Berlin 1863
	        
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