Berlin 1873
302 DER ALTE KAISER
Im Winter 1873/74, als ich im Auswärtigen Amt arbeitete, trug Berlin
bereits ein großstädtisches Gepräge, sein Straßenbild war lebendiger, sein
Verkehr stärker geworden. Schon drängte sich mittags, wenn die Wacht-
parade aufzog, die Menge um das Palais des alten Kaisers, um ihm zuzu-
jubeln, wenn er, immer freundlich grüßend, an dem nunmehr historisch
gewordenen Eckfenster zur bestimmten Stunde erschien. Auch in der Oper
konnte man ihn erblicken, wenn er in einer kleinen Seitenloge still und an-
dächtig Wachtel und der Lucca lauschte. In meinem Leben haben mir, wie
schon gesagt, nicht viele Menschen imponiert, wenige haben mir den Ein-
druck wahrer Größe gemacht. Ehrfurcht habe ich, der ich, obwohl begeiste-
rungsfähig, doch von Jugend auf zu einer gewissen Skepsis neigte, ganz
selten empfunden. Für keinen Sterblichen eine so tiefe und aufrichtige Ehr-
furcht wie für unseren alten Kaiser und König Wilhelm I. Und diese Ehr-
furcht galt nicht nur dem Monarchen, sie galt nicht allein dem König von
Preußen, dem auf dem Schlachtfeld von Königgrätz sein gleich dem Vater
siegreicher Sohn die Hand geküßt, sie galt nicht nur dem greisen Kaiser,
der Jena und Sedan erlebt hatte. Sie galt dem Mann, der wie kein zweiter
die höchsten Regententugendenbesaß : Pflichtgefühlund Gewissenhaftigkeit,
Charakterfestigkeit und unbeugsamen Mut, ohne Prahlerei noch Renom-
mieren, echte Frömmigkeit ohne Schaustellung noch Mystizismus. Sie galt
dem Soldaten, der Soldat war vom Scheitel bis zur Sohle, bis in die Finger-
spitzen innerlich straff. Sie galt dem Menschen, der vornehm und schlicht
war, fleißig, treu bis in die innerste Faser, nie formlos, aber auch nie geziert.
Er war lange nicht so geistreich wie sein älterer Bruder, König Friedrich
Wilhelm IV., aber er besaß jenen gesunden, hausbackenen Menschenver-
stand, von dem ein Franzose gesagt hat: „Le genie et le bon sens sont
freres, l’esprit n’est qu’un collateral.““ Er war kein Genie, aber er hatte alle
jene Eigenschaften, die den erfolgreichen Regenten ausmachen. Er war eine
harmonische und ausgeglichene Persönlichkeit und deshalb ein gerechter,
gütiger und milder Herrscher. Er hatte einen sehr klaren Blick für das
Richtige. Er wußte vor allem die rechten Leute zu finden und auf jeden
Posten den rechten Mann zu stellen. Für einen Regenten gibt es kaum eine
wichtigere Eigenschaft. Der Grundzug seines Wesens, seine Qualit& mai-
tresse, um mit Taine zu reden, war Treue, Treue gegen andere, Treue gegen
sich selbst, Treue in seinem Amte. Da er seinen Dienern immer die Treue
hielt, so standen sie auch in unerschütterlicher Treue zu ihm. Es hat selten
einen Mann gegeben, der so viel, so unablässig an sich selbst arbeitete. Er
lernte vor allem durch das Leben, aus jeder Erfahrung, mochte sie gut oder
bitter sein, und das bis in sein hohes Alter. Mit Solon konnte er von sich
sagen: yn0d0xo@ del noAlla dıdaoxöuerog („Stets und vieles zulernend, altere
ich“). Es hat auch selten einen Mann von solcher Selbstbeherrschung und