Dr. Arthur
Schopenhauer
16 DER PHILOSOPH IN FRANKFURT
als ich 1875 zum erstenmal dorthin kam; er war dänischer Gesandter in
Berlin, als ich 1900 Reichskanzler wurde. Bille und Wind wohnten in Frank-
furt in unserem Hause, wo sie bei meinem Vater die herzlichste Aufnahme
gefunden hatten. Meine Beziehungen zu den beiden vortrefflichen Diplo-
maten sind immer freundlich geblieben.
Unser Kanzleisekretär in Frankfurt hieß Kräuter, und kein Kräutchen
im Küchengarten konnte bescheidener sein als er. Er war ein Freund des
preußischen Kanzleisekretärs Kelchner, der ihm oft von seinem Chef, dem
Gesandten von Bismarck-Schönhausen, sprach, den er einen „verwogenen
Mann“ nannte. In meinem Beisein charakterisierte Kelchner seinen Ge-
sandten gelegentlich folgendermaßen: ‚Der ist ein Mann, der zu allem fähig
ist. Wenn er keine Lust hat, einer Bundestagssitzung beizuwohnen, und
ihm gerade kein besserer Vorwand einfällt, so macht er es wie folgt: Er
läßt anspannen, fährt die Mainzer Landstraße hinunter, von da auf die erste
beste Wiese, läßt den Wagen halten und hebt mit seinem Kutscher ein Rad
vom Wagen aus. Dann schickt er den Kutscher nach der Eschenheimer
Gasse mit dem Auftrag, im Bureau des Bundestags zu melden, daß er infolge
eines Wagenunfalles nicht zur Sitzung kommen könne. Und es geht ihm
durch! Ja, das ist ein verwogener Mann.“ Kelchner hat seinen großen Vor-
gesetzten von Frankfurt nach St. Petersburg und von da nach Berlin be-
gleitet, wo ich ihn, als ich Staatssekretär wurde, also nach fast vierzig
Jahren, nicht allzu gealtert, wieder vorfand.
Ein häufiger Gast auf der Frankfurter Promenade war der Prinz Emil
von Hessen-Darmstadt, eine Ruine aus der Rheinbundzeit. Ihm hatte
in der Schlacht von Leipzig, als er seine hessische Division zum Angriff
vorführte, Napoleon ermunternd zugerufen: „En avant, Roi de Prusse!“
Der korsische Imperator hatte den hessischen Prinzen, der sein eifriger An-
hänger war, für den Fall des Sieges über die Verbündeten zum König von
Preußen in Aussicht genommen.
Die wenigsten Bewohner von Frankfurt ahnten, daß in den fünfziger
Jahren zwei Männer in ihrer Stadt lebten, deren Name noch nach Äonen
mit Bewunderung und Ehrfurcht genannt werden wird: der preußische
Bundestagsgesandte Otto von Bismarck-Schönhausen und der Philosoph
Arthur Schopenhauer. Von diesem sprach uns bisweilen unser freund-
licher Hausarzt, der von uns Kindern sehr geliebte Doktor Stiebel. Dieser
Schopenhauer, erzählte er uns, sei ein ganz verdrehtes Haus. Kein Mensch
wisse, an wen der glaube. Auf seinem Tisch stehe ein kleiner Buddha, an
den richte er, wie es scheine, seine Gebete. Der große Philosoph wohnte an
der Schönen Aussicht, wo wir oft spazierengingen. Als ich dort einmal
einem in vorgebeugter Haltung, mit auf dem Rücken verschränkten Händen
promenierenden und sehr verdrießlich ausschauenden Herrn begegnete,