Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

318 ERGÄNZUNGEN 
„Weimar“ und ‚Potsdam‘ in Umlauf gebracht wurden, ist es Mode 
geworden, diese beiden Begriffe zueinander in Gegensatz zu bringen. Durch 
solche Plattheit werden die Köpfe verwirrt und wird das Vaterland 
geschädigt. In Wahrheit sind Potsdam und Weimar gar keine Gegensätze, 
sondern sie ergänzen einander. Mein Freund, der Dichter Adolf Wilbrandt, 
hat in einer tiefsinnigen und dabei anmutigen Komödie, die, wenn ich mich 
recht erinnere, „Der Unterstaatssekretär“ heißt, Potsdam und Weimar 
einander gegenübergestellt. Ein junger, tüchtiger, kluger Beamter und ein 
reizendes, liebenswürdiges Mädchen, die Tochter eines Gelehrten, fühlen 
sich zueinander hingezogen, streiten sich über Politik. Er sagt: „Ich stehe 
zu Bismarck, Moltke, Blücher, zu Fridericus Rex, zu Zieten und Seidlitz, 
zu dem Schöpfer der vorbildlichen und mustergültigen preußischen Ver- 
waltung und unserer herrlichen Armee, zu König Friedrich. Wilhelm I., zu 
dem Großen Kurfürsten, mit dem das Wiedererwachen des deutschen 
Volkes aus langem politischem Todesschlaf beginnt.“ Sie lispelt: „Und ich 
folge Goethe, Schiller, Herder, Lessing.“ Schließlich fallen sie sich beide in 
die Arme, um sich für immer zu finden und zu verbinden. In der Rede, die 
ich am 16. Juni 1901 vor dem Nationaldenkmal des Fürsten Bismarck in 
Berlin hielt, sagte ich*: „Fürst Bismarck ist auf politischem Gebiet und im 
Reiche der Tat für uns geworden, was Goethe im Reiche der Geister, auf 
dem Gebiete der Kunst und Kultur für uns gewesen ist. Auch er hat, wie 
Schiller von Goethe sagte, die Schlange erdrückt, die unseren Genius 
umschnürte. Goethe hat uns auf dem Gebiete der Bildung geeinigt, Bismarck 
hat uns politisch denken und handeln gelehrt. Und wie Goethe für immer 
als Stern an unserm geistigen Himmel steht, so ist Bismarck uns die Gewähr 
dafür, daß die Nation ihre Gleichberechtigung mit andern Völkern, ihr 
Recht auf Einheit, Selbständigkeit und Macht niemals aufgeben kann. Er 
hat uns das Beispiel gegeben, nie zu verzagen, auch in schwierigen und 
verworrenen Zeiten nicht.“ Und am 30. September 1907 sagte ich im 
Reichstag**, daß nur die Verbindung von altpreußischer, konservativer 
Tatkraft und Zucht mit deutschem, weitherzigem, liberalem Geist die 
Zukunft der Nation zu einer glücklichen gestalten könne. Das habe ich mehr 
als einmal wiederholt, und das gilt auch heute, Macchiavelli hat recht, wenn 
er sagt, daß die Völker immer wieder zum Ausgangspunkt ihrer Größe 
zurückkehren müßten. Ritornare al segno. 
Die Kaiserin Augusta war zu klug, zu weise, um nicht auch Potsdam 
würdigen zu können. Aber sie hielt es für die Aufgabe der Monarchie, aus- 
gleichend, versöhnend zu wirken. Sie wünschte nicht aufzuregen, sondern 
zu beruhigen. Sie wollte die Wunden heilen, welche die harte Hand des 
* Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe I, S. 222; Kleine Ausgabe I, S. 246. 
** Fürst Bülows Reden, Große Ausgabe III, S. 93/94, Kleine Ausgabe V, S. 43.
	        
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