Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

FRANZÖSISCHE ZENTRALISATION 321 
des Innern anstandslos einen Präfekten von Lille nach Montpellier, von 
Bordeaux nach Nancy versetzen kann und daß das französische Volk in 
entscheidender Stunde, wenn von energischer Hand geführt, nur einen 
Willen hat. Daß sich Frankreich nach Niederlagen, nach jedem Mißgeschick 
immer wieder rasch erholt hat, ist nicht zum kleinsten Teil auf die von 
Richelieu, dem Konvent und Napoleon I. durchgeführte und von allen 
französischen Regierungen aufrechterhaltene straffe Zentralisation und die 
aus ihr hervorgehende innere Einheit der französischen Nation zurück- 
zuführen. In der meisterhaften Rede, in der Thiers am 19. Februar 1871 in 
der französischen Nationalversammlung in Bordeaux die Notwendigkeit 
des Friedens mit Deutschland auseinandersetzte, hob er als einen der 
Gründe, aus denen er auch in dieser für Frankreich grausamen und furcht- 
baren Stunde nicht an der Zukunft seines Landes verzweifele, dessen „alte 
und mächtige Einheit‘ hervor. Die französische Einheit ist auch der 
Hauptgrund, weshalb das französische Volk Gebietsabtretungen schmerz- 
licher empfindet als andere Völker und speziell als das deutsche Volk. Die 
meisten Franzosen hatten nach dem Frankfurter Frieden wirklich die 
Empfindung, als ob sie mit Straßburg und Metz ein Glied ihres Körpers 
verloren hätten. So charakterisierte mir gegenüber einmal ein französischer 
Minister des Auswärtigen, Challemel-Lacour, persönlich weder ein Chau- 
vinist noch besonders deutschfeindlich — er hatte sogar Schopenhauer 
gekannt und übersetzt —, die französische Mentalität seit dem Frankfurter 
Frieden. Denkt die Mehrheit der Deutschen ebenso über den Verlust von 
Westpreußen und Posen, die wir seit über hundert Jahren besaßen, von 
Thorn und Graudenz und Bromberg, von Danzig und Memel, von Ober- 
schlesien, das nie polnisch war, über den Verlust der wunderschönen Stadt 
Straßburg und der Feste Metz, über die ungeheuren Verluste des Deutsch- 
tums in fast allen Teilen der früheren österreichischen Monarchie? 
Das Zweite, was mich diese Reise durch Südfrankreich lehrte, war, daß 
dieses Land zwar heftigere innere Kämpfe gekannt hat als irgendein anderes 
Land, daß aber die Franzosen leichter, viel leichter als wir Deutschen, ich 
sage das zum Ruhm der Franzosen, sich wieder in gleicher Liebe zu ihrem 
Vaterland zusammenfinden. Die Geschichte hat, wenn wir von dem in 
voller Entwicklung befindlichen bolschewistischen Rußland absehen, kaum 
größere Greuel, blutigere innere Kämpfe gesehen als in Frankreich. Wieviel 
Blut floß unter der Herrschaft des Konvents! ‚‚Quatre-vingt-treize, Epou- 
vantable ann&e, de lauriers et de sang grande ombre couronn&e!“ sang der 
französische Dichter, und er denkt zuerst an den Siegeslorbeer, mit dem 
sich damals Frankreich bekränzte, dann erst an das stromweise vergossene 
Blut. Wieviel Blut floß in Paris 1849, während des Juni-Aufstandes und 
1871 während der Kommune! 
21 Bülow IV
	        
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