DER ATTACHE MACHT BESUCH 323
Am 15. Oktober 1874 in Rom eingetroffen, stieg ich an der Piazza di
Spagna im Hötel de Londres ab, dem heutigen Hötel des Princes. Dann
suchte ich den auf der Höhe des Kapitols gelegenen Palazzo Caffarelli auf,
in dem ich gerade zwanzig Jahre später als Botschafter mit meiner geliebten
Frau glückliche Jahre verleben sollte. 1874 empfing mich der Gesandte von
Keudell (Rom wurde erst später zur Botschaft erhoben) mit biederem
Händedruck, aber ohne ein Wort zu sagen. Dann wurde das Luncheon
gemeldet, zu dem außer mir der schon vor längerer Zeit in Rom eingetroffene
Rittmeister Otto von Senden von den 2. Garde-Dragonern eingeladen war,
den ich als Regimentskameraden meines Bruders Adolf gut kannte.
Während des Frühstücks sprach Keudell kaum ein Wort. Nachdem wir
stumm eine Zigarre geraucht hatten, schlug er mir vor, am nächsten Tage
nach Neapel abzureisen, das ich so bald wie möglich kennenlernen müßte.
Von dort möge ich nach Sizilien fahren, auf das ich mindestens drei Wochen
verwenden solle. Ich war durch diesen Empfang von seiten meines neuen
Chefs etwas enttäuscht. Ich hatte nicht erwartet, daß er gleich Probleme
der italienischen Politik zur Sprache bringen würde, aber ich hatte immer-
hin auf einen Hinweis auf meine künftige Tätigkeit unter seiner Leitung,
auf eine Art dienstlicher Ermunterung gerechnet. Als ich mit Otto Senden
an den rossebändigenden Dioskuren vorbei die Flachtreppe des Kapitols
hinunterstieg, sagte ich zu ihm: „Keudell scheint es gräßlich zu sein, daß
man mich ihm als Attach& geschickt hat. Er hat kein Wort mit mir geredet.
Ich werde meinem Vater schreiben und ihn bitten, mich an eine andere
Mission zu versetzen. Der Wechsel tut mir leid, denn ich hatte mich so auf
Rom gefreut und hoffte hier einen schönen Winter zu verleben.‘“ Senden
erwiderte mirlachend: „Ich fandim Gegenteil Keudell heute eher gesprächig.
Gewöhnlich gibt er noch weniger von sich.“
Robert von Keudell war in der Tat einer der einsilbigsten Menschen, die
mir vorgekommen sind. Solange er bei Bismarck gut angeschrieben war,
galt seine Schweigsamkeit für einen Beweis von Gedankentiefe und geistiger
Überlegenheit. Als er später bei dem großen Kanzler in Ungnade fiel, hieß
es, seine völlige Unbedeutendheit zeige sich auch darin, daß er nie den Mund
auftue. Keudell dankte seine Karriere nicht zuletzt dem Umstand, daß er
als junger Mann mit Fräulein Johanna von Puttkamer vierhändig Klavier
gespielt hatte. Die gute, treue Johanna hat ihrem Jugendfreunde Robert
Keudell stets ihre Freundschaft bewahrt, auch nachdem sie den großen
Otto Bismarck geheiratet hatte. Während dieser Gesandter in Frankfurt
war, hatte Keudell mehrfach als Logierbesuch im Bismarckschen Hause
geweilt. Auch in St. Petersburg hat er die Bismarcks besucht. Als Bismarck
zum Ministerpräsidenten und Minister des Äußern ernannt wurde, empfand
er das Bedürfnis, sich mit einigen ganz sicheren Mitarbeitern zu umgeben.
2ı*
Rom
Keudell und
Bismarck