Neapel
und Sizilien
324. EIN GIFTPFEIL HOLSTEINS
Deshalb zog er neben seinem Vetter, dem Grafen Karl von Bismarck-
Bohlen, auch Robert von Keudell als Mitarbeiter in das Ministerium des
Äußern, wo dieser die neun bedeutungsvollen Jahre von 1863 bis 1872 als
Personaldezernent verlebte.
Weshalb verlor Keudell später das Vertrauen seines großen Chefs?
Vielleicht hat es diesen verstimmt, daß Keudell, nachdem er sich mit der
reichen Tochter des früheren liberalen Handels- und Finanzministers von
Patow vermählt hatte, ins Ausland drängte. Es scheint, daß Keudell, der
gute Beziehungen zu Publizisten und Literaten hatte, nach der Ansicht
seines hohen Chefs zu viel Reklame für sich machte. Zweifellos haben aber
auch Intrigen von Holstein, der, seitdem er 1860 als Attache in St. Peters-
burg unter Bismarck gedient hatte, dessen intimster Vertrauensmann
geworden war, dazu beigetragen, das Verhältnis zwischen Bismarck und
Keudell zu trüben. Keudell hat mir selbst, als ich Attach& bei ihm war,
erzählt, Holstein habe Bismarck eingeredet, Keudell habe in Berlin die
Nachricht verbreitet, daß von ärztlicher Seite behauptet würde, der große
Minister gehe einer Gehirnerweichung entgegen, die mit der Zeit zu völliger
Geistesstörung führen würde. Jedenfalls ein echt Holsteinscher Giftpfeil.
Als ich in Rom 1874/75 unter Keudell arbeitete, war das Verhältnis
zwischen ihm und seinem Chef äußerlich noch leidlich. Die Fürstin
Johanna schrieb regelmäßig an ihren Jugendfreund. Sie hatte auch dessen
Gattin, die sehr liebe und gütige Frau Hedwig, in ihr Herz geschlossen.
Aber Keudell fühlte sich nicht mehr sicher und sprach nicht selten davon,
daß er sich nach Ruhe sehne. Er reichte an diplomatischer Brauchbarkeit
an andere deutsche Vertreter der Bismarckschen Zeit, wie Paul Hatzfeldt,
Schweinitz, Savigny, Goltz, Prinz Heinrich VII. Reuß, nicht heran. Er
besaß nicht die Gedankentiefe Lothar Buchers oder meines Vaters.
Aber er war fleißig und gewissenhaft, er hatte den ostpreußischen klaren
und nüchternen Verstand. In Rom war er allgemein beliebt. Er galt mit
Recht für einen Bewunderer und Freund des modernen Italien. Die damals
sehr zahlreiche deutsche Kolonie schwärmte für Keudell.
Mein Chef hatte mir einen guten Rat gegeben, als er mir empfahl,
Neapel und Sizilien zu besuchen. Ich denke nicht daran, die dort im
Herbst 1874 verlebten Wochen zu beschreiben, da ich nicht den Ehrgeiz
habe, mit Goethe zu wetteifern. Den Vesuv bestieg ich zu Fuß, was bei der
herrschenden Hitze einigermaßen anstrengend war. Ein dicker württem-
bergischer Herr, der mit mir hinaufkletterte, wurde vom Schlag gerührt.
Wegen seiner Beisetzung gab es allerhand Schwierigkeiten, weil die
katholische Geistlichkeit der umliegenden Orte dem armen schwäbischen
Ketzer keinen Platz in geweihter Erde gönnte. In Sorrent wurde ich ge-
warnt, die Berghöhe des Deserto aufzusuchen, da sich dort Briganten