EIN DROHBRIEF BISMARCKS 329
Im Februar 1875 hatte Pius IX. an den preußischen Episkopat eine
leidenschaftliche Enzyklika gerichtet, in der er „allen, welche es angeht“,
d. h. zunächst den preußischen Katholiken, „‚ganz offen“ erklärte, daß die
Maigesetze, die unter voller Wahrung der durch die preußische Verfassung
vorgeschriebenen Form zustande gekommen waren, ungültig seien, was,
wenn auch nicht ausdrücklich, so doch implicite die Entbindung der
katholischen preußischen Untertanen von der Pflicht des Gehorsams gegen
die Maigesetze bedeutete. Nicht lange nachher eröffnete mir Herr von Keu-
dell mit sorgenvollem Gesicht, er habe aus Berlin einen überaus heiklen
Auftrag erhalten. Fürst Bismarck habe ihm geschrieben, er lasse sich den
öffentlichen Tadel und die Drohungen des Papstes nicht länger gefallen.
Vor der Besitzergreifung Roms durch Italien würde er einfach manu
militari gegen den Pontifex Maximus vorgegangen sein, wie dies in ver-
gangenen Jahrhunderten Frankreich, Spanien und die römischen Kaiser
deutscher Nation mehr als einmal getan hatten. Jetzt müsse er die
italienische Regierung für das Verhalten des Papstes verantwort-
lich machen und sie ernstlich ersuchen, ihn zur Ruhe zu bringen. Keudell
fühlte, daß die Ausführung dieses Auftrags schwierig war, andererseits
zitterte er vor seinem großen Chef, dessen Temperament er nur zu gut
kannte. Er beschloß, seinen Auftrag noch am selben Abend während eines
Hofballes im Quirinal auszuführen. Er wies mich an, wenn er mit dem
Minister des Äußern, Visconti-Venosta, ein Gespräch beginnen sollte,
mich in seiner Nähe zu halten, um, wenn er über die Unterredung nach
Berlin berichte, seinem Gedächtnis zu Hilfe kommen zu können.
Emilio Visconti-Venosta, damals fünfundvierzig Jahre alt, war einer
der berechnendsten und vorsichtigsten Politiker, die mir vorgekommen
sind. Ich glaube nicht, daß er je in seinem Leben auf irgendeinem Gebiet
eine Dummheit begangen hat. Er stammte aus dem Veltlin und besaß die
Gerissenheit (furberia) der Bewohner dieser Landschaft, die während so
vieler blutiger Kämpfe des Mittelalters sich bald der Schweizer, bald der
Mailänder erwehren mußten. In jungen Jahren nach Mailand gekommen,
hatte er sich dort der radikalen Partei angeschlossen und Zeitungsartikel
geschrieben, in denen er das Volk aufforderte, die Straßen der Stadt mit
den abgeschnittenen Köpfen der Aristokraten zu pflastern. Später ließ er
sich nicht ungern zum Marchese erheben. Er war, wie ich schon erwähnte,
Privatsekretär von Mazzini gewesen. Er wurde viermal Minister des Aus-
wärtigen, zuletzt 1896, während ich Botschafter in Rom war.
Keudell benutzte einen Augenblick, wo Visconti allein in einer Ecke des
großen Tanzsaales stand, um auf ihn zuzugehen, gefolgt von mir, dem
bescheiden, aber aufmerksam zuhörenden Attache. Wie sich die beiden
gegenüberstanden, der biedere, im Grunde warmherzige Deutsche und der
Enzyklika
gegen die
Maigesetze