Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

Reise durch 
Rußland 
362 FÜNFUNDZWANZIG RUBEL 
Jahren Rußland kennenzulernen. In einer letzten und entscheidenden 
Unterredung erklärte ich meinem Vater, daß ich meine Versetzung nach 
Petersburg mit Dank begrüßen würde. 
So trat ich nach einem bewegten Abschied von der Fürstin Y. die Reise 
nach St. Petersburg an, das in ihrer gezierten Sprechweise die russischen 
Damen damals ‚la Palmyre du Nord‘ nannten, dessen Name nach dem 
Ausbruch des Weltkrieges, um jede Erinnerung an deutsche Sprache und 
Kultur zu verwischen, in Petrograd verwandelt wurde und das heute 
Leningrad heißt. Wie wird die Stadt Peters des Großen in abermals 
fünfzig Jahren heißen? Werden sich ihre jetzt schon verwaisten und 
zerfallenden Paläste dann noch in den Fluten der Newa spiegeln? Oder 
wird bis dahin der konsequente, integrale Marxismus, der Bolschewismus, 
dessen Tscheka an Borniertheit und Brutalität alles übertrifft, was hundert- 
fünfundzwanzig Jahre früher das „Comite de Salut public“ der Jakobiner 
fertigbrachte, Petersburg völlig verwüstet haben, die Stadt, die vom großen 
Zar Peter bis zum kleinen Zar Nikolaus II. der Mittelpunkt eines ge- 
waltigen Reichs war? 
Das Reisen war im alten Rußland sehr bequem. Das kam von der 
Langsamkeit, mit der gefahren wurde. So stießen und schwankten die über- 
dies auf breiten Gleisen fahrenden Wagen nicht, in denen der Reisende mit 
Behagen lesen, schreiben oder auch dem Kartenspiel huldigen konnte, für 
das der Russe angeborenes Talent und ausgesprochene Neigung besitzt. 
Zwischen Wirballen und Petersburg gab es wenige Stationen. Wurde 
aber haltgemacht, so dauerte der Aufenthalt mindestens eine halbe Stunde, 
und der Reisende stärkte sich in aller Ruhe an einem mit den vielen 
Leckerbissen der russischen Küche besetzten Büfett für die weitere Fahrt. 
Im alten Rußland hatte man immer und für alles Zeit. In Wirballen 
erwartete mich, der ich als Kurier reiste, der preußische Grenzkommissar 
mit seinem russischen Kollegen, der einen gräflichen Namen trug. Während 
ich mit dem letztern in französischer Sprache artige Komplimente aus- 
tauschte, bat mich der Preuße leise um fünfundzwanzig Rubel, verstohlen 
gab er sie dem Russen, unbefangen steckte dieser sie in seine Brusttasche. 
Dann erklärte er uns in charmanter Form, daß alle Zoll-, Grenz- und 
Paßformalitäten erledigt seien und er mir eine weitere angenehme 
Fahrt wünsche. 
Von der Grenze an verschwand das Laubholz, nur hier und da tauchte 
eine verschneite Birke auf. An den Stationen standen, in dicke Schafpelze 
gehüllt, Gendarmen, die Nase und Ohren zum Schutz gegen dieim November 
schon sehr fühlbare Kälte mit Tüchern verbunden hatten. Ärmlich aus- 
sehende Juden im Kaftan und mit Schmachtlocken hielten sich ängstlich 
im Hintergrund und boten, wenn sie sich von den Gendarmen nicht
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.