Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Vierter Band. Jugend- und Diplomatenjahre. (4)

Russische 
Literatur 
370 „LESEN SIE OBLOMOW! 
Lebemann der damaligen Zeit ungewöhnlich zynisch. Sie liebte ihr 
Volk, war aber nicht blind für dessen Mängel. Sie zitierte gern das 
Wort von Alexander Herzen, dem großen russischen Revolutionär, der 
gemeint hatte, daß in Rußland zweimal zwei zuweilen, wenn auch sehr 
selten, fünf, meistens drei, aber fast nie vier ergebe. Ihr verdanke ich die 
frühe Bekanntschaft mit der russischen Literatur, mit Turgenjew und 
Grigorowitsch, die ich beide in späteren Jahren persönlich kennenlernen 
sollte, mit Puschkin und Lermontow, mit Gogol und Gontscharow, mit den 
beiden ganz Großen, mit Dostojewski und Lew Nikolajewitsch Tolstoi. 
Diese Namen sind heute jedem geläufig. Aber noch in den achtziger Jahren 
des vergangenen Jahrhunderts begegnete ich in Paris bei gebildeten und 
geistreichen Leuten erstauntem und ungläubigem Lächeln, wenn ich von 
Tolstoi und Dostojewski sprach und schwärmte. Damit will ich nicht etwa 
eine Eigenart der zeitgenössischen Franzosen feststellen. Verständnis- 
losigkeit und Unduldsamkeit gegenüber neu aufsteigenden oder nicht 
verstandenen literarischen und künstlerischen Strömungen sind in allen 
Ländern und zu allen Zeiten zu verzeichnen gewesen. Voltaire verachtete 
Shakespeare, Friedrich der Große das Nibelungenlied, Goethe wollte von 
Gottfried August Bürger und Heinrich von Kleist nichts wissen. Meister- 
werke wie der „Lohengrin“ und der ‚„Tannhäuser“ wurden bei ihrem 
Erscheinen von der Berliner und Wiener Kritik in Grund und Boden ver- 
dammt und noch der „Nibelungenring‘ bei seiner Aufführung in Bayreuth 
1876 von „hochstehenden“ Publizisten mit Hohn und Spott übergossen. 
Ich hatte also allen Grund, meiner russischen Freundin dankbar zu scin, 
die mir das Verständnis für die Literatur ihres Volkes und damit für seine 
Psyche erschloß. Sie wies gern darauf hin, daß viele russische Romane und 
gerade die schönsten keinen rechten Abschluß hätten. Einer der be- 
rühmtesten aller russischen Romane endige damit, daß der Held in denkbar 
trübster Stimmung, mit moralischem Kater und, was beinahe noch 
schlimmer sei, mit fürchterlichen Zahnschmerzen in einem langsam 
fahrenden Eisenbahnzug einer ganz ungewissen, unklaren Zukunft entgegen- 
fahre. So gehe es dem Russen auch im wirklichen Leben. Es fehle ihm eben 
an Intensität und Konsequenz. „Lisez Oblomow!“ So gehe es auch dem 
ganzen russischen Volk. Hat es den Traum von Byzanz, von Zarigrad 
verwirklicht ? „Im Westen‘, meinte die Gräfin T., ‚‚f[abelt man von einem 
Testamente Peters des Großen und unterschiebt uns Welteroberungs- 
pläne. Das Testament hat nie existiert, und wir werden auch nie die 
Welt erobern. Wir gleichen dem Nebel, der mit dem Schnee uns sieben 
Monate einhüllt.‘“ Die Gräfin T. hat bisweilen hart am Rande des gesell- 
schaftlichen Abgrundes gestanden, ist aber nicht abgestürzt. Die arme 
Prinzeß R. ging unter.
	        
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