DIE EHE ALEXANDERS II. 375
auch ich befohlen wurde. Das Diner wurde in einem kleineren Saal des
kaiserlichen Palais serviert. An der Wand hing, als einziger Schmuck, ein
Bild: Parade auf dem Tempelhofer Feld. Kaiser Wilhelm I. führt seinem
Neffen, dem Kaiser Alexander II., dessen preußisches Regiment vor, das
Kaiser-Alexander-Garde-Grenadier-Regiment Nr. 1. Wenn der hoch-
gewachsene, sehr gut aussehende Alexander II. bei einer Parade einen
brillanten Eindruck machte, so war es andererseits schwer, sich in kleinem
Kreise seinem Charme zu entziehen. Ohne sich etwas zu vergeben, war er
natürlich, einfach und liebenswürdig. Seine Konversation war die eines
Weltmannes, interessant, nicht ohne Geist. Er war ein Causeur. Er war vor
allem ein vollkommener Gentleman. Das war Franz Josef auch, aber
Alexander II. war geistig bedeutender als sein Wiener Kollege. Gewiß war
er nicht so glänzend begabt wie Wilhelm II., aber er hatte einen besseren
Geschmack und mehr Takt. Die Gerechtigkeit erheischt, anzuerkennen,
daß kein anderer russischer Herrscher so viel für sein Volk und für den
Fortschritt seines Landes getan hat wie Alexander II. Rußland verdankt
ihm die Aufhebung der Leibeigenschaft, eine der größten sozialen Maß-
nahmen aller Zeiten, eine Gerichtsreform nach europäischem Muster, eine
freie Kommunalverwaltung, Steuererleichterungen, große Verbesserungen
im Schulwesen, eine Milderung der Zensur, die zu einer früher für unmöglich
gehaltenen Preßfreiheit führte, die allerdings in erster Linie den chau-
vinistischen Panslawisten zugute kommen sollte. Neben Alexander II. hatte
seine Gemahlin, die Kaiserin Maria Alexandrowna, etwas Mißmutiges,
Gedrücktes, Still-Pikiertes. Obwohl damals erst fünfzig Jahre alt, war sie
schon völlig verblüht. Auch wer nicht gewußt hätte, daß sie seit fünf Jahren
eine glückliche Nebenbuhlerin hatte, würde ihr die wenn auch nicht ver-
stoßene, so doch vernachlässigte, zurückgesetzte und als lästige Fessel
empfundene Ehefrau angesehen haben. Und doch war ihre Heirat mit dem
damaligen Cäsarewitsch Alexander Nikolajewitsch eine Liebesheirat gewesen.
Als der künftige Kaiser Alexander II. 1840 eine Rundreise bei den deut-
schen Höfen angetreten hatte, um sich nach dem hundertfünfzigjährigen
Usus seines Hauses in dem „‚deutschen Gestüt“, wie sich der Reichsfreiherr
vom Stein kräftig ausdrückte, eine Lebensgefährtin auszusuchen, hatte ihn
in Darmstadt die kaum sechzehnjährige Prinzessin Marie von Hessen-
Darmstadt bezaubert. Er verhehlte dem russischen Gesandten in Darmstadt,
dem späteren Botschafter in Berlin, Herrn von Oubril, nicht den günstigen
Eindruck, den die anmutige Prinzessin auf ihn gemacht hatte. Oubril
stimmte freudig in das Lob ein, das der Cäsarewitsch den Reizen der
Prinzessin Marie spendete. Aber er machte gleichzeitig ehrerbietig auf ein,
wie er meinte, ernstes Ehehindernis aufmerksam. Jeder Mann in Darmstadt
wisse, erklärte er dem Thronfolger, daß der wirkliche Vater der Prinzessin
Abschieds-
diner für den
Prinzen Reuß